Stille Reserven in Kapitalgesellschaftsanteilen

Teil 1

- Zweck

Verlegt eine natürliche Person, die in Deutschland in den letzten 12 Jahren mindestens 7 Jahre unbeschränkt steuerpflichtig war, ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt ins Ausland, werden nach § 6 AStG die stillen Reserven in den Anteilen an in- und ausländischen Kapitalgesellschaften sowie an optierten Personengesellschaften (§ 1a KStG) besteuert. Es ist nicht entscheidend, wo sie hinzieht (DBA‑/‌Nicht-DBA-Staat, Niedrig‑/‌Hochsteuerland).

Zweck der Regelung ist, das deutsche Besteuerungsrecht an stillen Reserven von im Privatvermögen gehaltenen Anteilen an Kapitalgesellschaften zu sichern[1] Dabei ergibt sich der Verlust des deutschen Besteuerungsrechts im Wegzugsfall im Regelfall aus der Anwendung der DBA. Zwar unterliegt der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften der inländischen beschränkten Steuerpflicht (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 e) EStG), die DBA weisen aber regelmäßig das Besteuerungsrecht dem Ansässigkeitsstaat des Anteilseigners zu (vgl. Art. 13 Abs. 5 OECD-MA; Ausnahmen: z. B. DBA-Tschechien, DBA-Slowakei oder neuerdings DBA mit Sonderregelung für Immobiliengesellschaften nach Art. 13 Abs. 4 OECD-MA). Der Gesetzgeber hätte, um seinen Besteuerungsanspruch zu sichern, die Wegzugsbesteuerung auf solche Fälle beschränken können, in denen das Besteuerungsrecht ausgeschlossen oder beschränkt wird. Dies hat er nicht getan. Die Wegzugsbesteuerung nach § 6 Abs. 1 AStG greift auch in Nicht-DBA-Fällen oder in solchen DBA-Fällen ein, die dem Wegzugsstaat das Besteuerungsrecht belassen.

§ 6 AStG bewirkt eine zeitliche Vorverlagerung der Besteuerung stiller Reserven, wodurch auch Regelungen in DBA unterlaufen werden. [2] Da die stillen Reserven zudem regelmäßig besteuert werden, wenn der Steuerpflichtige seine Anteile im Ausland tatsächlich veräußert, liegt die Gefahr einer ganzen oder teilweisen Doppelbesteuerung auf der Hand. Ob eine solche Doppelbesteuerung vermieden werden kann, hängt im Wesentlichen vom Steuerrecht des Zuzugsstaates ab. [3]

Das Gesetz stellt den Wegzug mit einer Beteiligung einer Veräußerung der Beteiligung gleich. Der Wegzug fingiert eine Veräußerung, wodurch es zu einer Besteuerung eines bloß fiktiven Veräußerungsgewinns kommt. Eine tatsächliche Gewinnrealisierung findet nicht statt. Die Besteuerung eines bloß fingierten Gewinns durchbricht das Realisationsprinzip im Steuerrecht. Die wegzugsbedingte Steuerbelastung ist für den Steuerpflichtigen deshalb besonders nachteilig, weil keine tatsächliche Veräußerung und damit kein Zufluss von Liquidität erfolgt, aus der die Steuer bezahlt werden könnte. [4] § 6 AStG enthält zwar Regelungen, die die Belastung mindern sollen, allerdings verbleibt es bei einer Liquiditätsbelastung für den Steuerpflichtigen. [5]

Aus der Veräußerungsfiktion folgt u.U. nicht nur, dass der Veräußerungsgewinn für das Wegzugsjahr in der Steuererklärung zu erfassen ist. Gemäß § 138 Abs. 2 Nr. 3 AO kann eine gesonderte Anzeigepflicht bestehen. Unbeschränkt Steuerpflichtige haben den Erwerb und die Veräußerung von Beteiligungen an ausländischen Kapitalgesellschaften anzuzeigen, wenn die Beteiligung an der Kapitalgesellschaft 10% des Kapitals übersteigt oder die Summe der Anschaffungskosten aller Beteiligten 150.000 EUR übersteigt. Die Finanzverwaltung sieht ferner den Fall der sog. passiven Entstrickung nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG 2007 als einen anzeigepflichtigen Sachverhalt an. [6]

- Rechtsentwicklung 

§ 6 AStG gilt als „lex Horten“. Die Bezeichnung bezieht sich auf den seinerzeitigen Anlassfall. § 6 AStG ist die Antwort des Gesetzgebers auf prominente Wegzugsfälle (in der Regel in die Schweiz) Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Gesetzgeber führte daraufhin § 6 mit dem AStG im Jahr 1972 ein.

§ 6 AStG wurde am 07.12.2006 durch das „Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften“ (SEStEG) völlig neu gefasst und ist erstmalig für Sachverhalte ab 2007 anwendbar. Gegen die Vorläuferbestimmung bestanden in der Literatur durchgreifende europarechtliche Bedenken, die der EuGH mit Urteil vom 11.03.2004 in der Rechtssache „Lasteyrie du Saillant“ – betreffend die vergleichbare französische Regelung – bestätigte. [1] Eine Schlussbesteuerung anlässlich eines Wegzugs in einen anderen EU-/EWR-Mitgliedstaat ist danach grundsätzlich unzulässig. Der EuGH hat in dem Urteil „N“ an seine Rechtsauffassung noch einmal bestätigt. [2]

§ 6 AStG 2007 in der Fassung des SEStEG bezweckt, den europarechtlichen Mangel zu beseitigen, indem bei einem Wegzug in einen EU-/EWR-Mitgliedstaat die festgesetzte Steuer zinslos und unbefristet gestundet wird. Die Stundungsregelung wird dabei durch umfangreiche Verfahrenspflichten des Steuerpflichtigen zur Sicherung des gestundeten Steueranspruchs begleitet.

§ 6 AStG 2007 ist seit dem SEStEG bis einschließlich 2021 im Wesentlichen unverändert geblieben. Zwischenzeitlich hat die Rechtsprechung des EuGH allerdings einen Paradigmenwechsel vollzogen, der zunächst die Verlagerung von Betriebsvermögen [3], danach aber auch den Wegzug natürlicher Personen betrifft. Der EuGH hält zwar am Verbot der Sofortversteuerung fest, lässt jedoch Steuerstundung gegen Sicherheitsleistung zu. Damit wird das Sofortversteuerungsverbot faktisch abgeschafft und durch ein Ratenzahlungsgebot ersetzt. Bezog sich die Neuausrichtung der Rechtsprechung des EuGH zunächst auf sog. sachliche Entstrickungsfälle (Verlagerung von Betriebsvermögen oder Sitzverlegung von Gesellschaften), hat der EuGH durch das Urteil Portugal II die fiskalfreundliche Rechtsprechung mittlerweile auch auf die Besteuerung von stillen Reserven in Anteilen an Kapitalgesellschaften anlässlich des Wegzugs natürlicher Personen ausgeweitet. [4] 

Etwa zeitgleich zur fiskalfreundlichen Neujustierung der EuGH-Rechtsprechung wurde am 19.07.2016 die Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12.07.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes (sog. Anti-Tax Avoidance Directive; im Folgenden: ATAD-Richtlinie) im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Mit der ATAD-Richtlinie verfolgt der Unionsrechtsgeber das Ziel, „eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung innerhalb der Europäischen Union zu gewährleisten“. [5] Die Richtlinie ist bis zum 31.12.2018 umzusetzen und ab dem 1.1.2019 anzuwenden und enthält auch Regelungen zur Wegzugsbesteuerung. Die Richtlinie regelt am Maßstab der neuen EuGH-Rechtsprechung die Mindestanforderungen zum Schutze der Grundfreiheiten, die hinter dem deutschen Schutzniveau zurückbleiben. Anpassungsbedarf besteht für den deutschen Gesetzgeber nicht. Der deutsche Gesetzgeber nimmt die Richtlinie dennoch zum Anlass, durch das ATAD-Umsetzungsgesetz (ATADUmsG) das bisherige bürgerfreundliche Stundungssystem für EU-/EWR-Sachverhalte mit Wirkung zum VZ 2022 durch ein Ratenzahlungssystem mit Sicherheitsleistung zu ersetzen.

Die nachfolgende Darstellung geht sowohl auf die Rechtslage vor 2022 als auch auf die Rechtslage danach ein. Sofern sich § 6 AStG inhaltlich verändert hat, wird die Norm mit dem Zusatz „2007“ oder „2022“ zitiert. § 6 AStG 2007 betrifft die Sachverhalte, die durch das SEStEG mit Wirkung zum 01.01.2007 neu geregelt wurden. § 6 AStG 2022 betrifft die Sachverhalte, die durch das ATAD-Umsetzungsgesetz vom 25.6.2021 mit Wirkung zum 01.01.2022 geregelt werden.

§ 6 AStG 2007§§ 6 AStG, 21 III 2022
Alle Wegzüge bis einschließlich 2021Wegzüge ab 2022

Zum zeitlichen Anwendungsbereich (§ 21 Abs. 3 S. 1 AStG idF des JStG 2022): „Wurde ein Tatbestand des § 6 Abs. 1 in einer bis zum 30.6.2021 geltenden Fassung vor dem 1.1.2022 verwirklicht, ist § 6 in der am 30.6.2021 geltenden Fassung für die Abwicklung dieses Falles über den 31.12.2021 hinaus anzuwenden.“ Damit hat der Gesetzgeber eine (m.E. nur scheinbare) Unsicherheit [6] bei der Auslegung beseitigt, was zu begrüßen ist. Die Auslegung von § 21 Abs. 3 AStG idF des ATADUmsG kam zu keinem anderen Ergebnis. Für Wegzüge (fiktive Veräußerungen) vor 2022 gilt uneingeschränkt die alte Regelung.

Durch § 1a KStG, eingeführt durch das Körperschaftsteuermodernisierungsgesetz, unterfallen nunmehr auch Anteile an optierten Personengesellschaften in den Anwendungsbereich von § 6 AStG 2022. 

- Drei Fälle der Veräußerungsfiktion

Fall 1: Wegzug einer natürlichen Person

Wegzug, § 6 I 1 AStG 2007Wegzug, § 6 I 1 Nr. 1 AStG 2022
Natürliche Person=
Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht= § 6 I 1 Nr. 1 AStG
10 Jahre unbeschränkte Steuerpflicht (Fallbeispiel 3)Innerhalb der letzten 12 Jahre mindestens 7 Jahre 
unbeschränkte Steuerpflicht, § 6 II AStG 2022
Zurechnung bei unentgeltlichem Erwerb durch Rechtsgeschäft, § 6 II AStG 2007 (Fallbeispiel 4)Zurechnung bei unentgeltlichem Erwerb, § 6 II 2, 3 AStG 2022
Anteile im Sinne von § 17 EStG=

Tatbestandsvoraussetzungen

  1. Natürliche Personen
    § 6 AStG betrifft nur natürliche Personen i. S. v. § 1 BGB, wobei es nicht auf die Geschäfts- sondern nur auf die Rechtsfähigkeit ankommt, so dass der Tatbestand auch von Kindern verwirklicht werden kann. [1]

    Die Staatsangehörigkeit spielt für die Verwirklichung des Steuertatbestands keine Rolle [2], wohl aber bis VZ 2021 für die Voraussetzungen der Steuerstundung im Falle des Wegzugs in einen anderen EU-/EWR-Staat (EU-/EWR-Staatsangehörigkeit).

    Kapitalgesellschaften, die Anteile an anderen Kapitalgesellschaften halten und durch Verlagerung ihres Verwaltungs-/Satzungssitzes aus der unbeschränkten Steuerpflicht ausscheiden, werden gem. § 12 KStG oder nach § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG besteuert.

  2. Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht
    Die unbeschränkte Steuerpflicht endet durch Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts, § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG 2007/§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AStG 2022.

    Fallbeispiel 3
    Bis einschließlich 2021 muss der Wegziehende gem. § 6 Abs. 1 AStG 2007 insgesamt mindestens 10 Jahre im Inland unbeschränkt steuerpflichtig gewesen sein. Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 AStG 2022 reichen 7 Jahre innerhalb der letzten 12 Jahre.

    Der Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Besteuerung vom Grundsatz her nur greifen soll, wenn die Vermögensmehrungen aus einer nachhaltigen, persönlichen und wirtschaftlichen Eingliederung des Steuerpflichtigen in die deutsche Volkswirtschaft stammen. [4] Nach dem Wortlaut der Vorschrift werden Unterbrechungen der unbeschränkten Steuerpflicht nicht berücksichtigt.

    A erfüllt im obigen Beispiel 3 nach § 6 Abs. 1 AStG 2007 die persönlichen Voraussetzungen für die Wegzugsbesteuerung. Er war insgesamt über 10 Jahre in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig, und zwar bis August 2004 für einen Zeitraum von 6 Jahren und 8 Monaten sowie ab 2018 für ca. weitere 5 Jahre. Bei der Berechnung der Zehnjahresbedingung sind alle Zeiten unbeschränkter Steuerpflicht zu addieren.

    Fraglich ist, ob die mehr als zehnjährige Unterbrechung der Addition der Zeiträume entgegensteht. Ist die Eingliederung des Steuerpflichtigen in die deutsche Volkswirtschaft während der Ansässigkeit im Ausland unterbrochen, wird im Schrifttum zum Teil gefordert, nach spätestens 10 Jahren Ansässigkeit im Ausland eine Ausgliederung aus der deutschen Volkswirtschaft anzunehmen. [5] Dies hätte zur Folge, dass eine Wegzugsbesteuerung nach § 6 Abs. 1 AStG erst nach einer erneuten zehnjährigen Eingliederung erfolgen würde. Diese Auslegung widerspricht indes dem Wortlaut.

    Ab 2022 ist der berücksichtigungsfähige Zeitraum auf 12 Jahre beschränkt, § 6 Abs. 2 AStG 2022. Solche Phasen der unbeschränkten Steuerpflicht werden nicht mehr berücksichtigt, die länger als 12 Jahre zurückliegen. Allerdings reicht es dann aus, wenn der Wegzügler während der 12 Jahre insgesamt 7 Jahre (statt vorher 10 Jahre) unbeschränkt steuerpflichtig war.

    Im obigen Beispiel 3 kann sich A der Wegzugsbesteuerung entziehen, wenn er erst im Januar 2022, also unter Anwendung der Neuregelung, nach Kanada zurückzieht. Gemessen vom Wegzugszeitpunkt im Januar 2022 war A in den vergangenen 12 Jahren nur etwas mehr als 4 Jahre unbeschränkt steuerpflichtig. Damit erfüllt er nicht die persönliche Voraussetzung nach § 6 Abs. 2 AStG 2022.

    In Ausnahmefällen muss der Steuerpflichtige die Voraussetzungen der unbeschränkten Steuerpflicht im Inland nicht in eigener Person erfüllen. Bei unentgeltlichen Vermögensübertragungen ist zu prüfen, ob Besteuerungsmerkmale des Rechtsvorgängers dem Rechtsnachfolger zuzurechnen sind. Eine solche Zurechnungsnorm ist § 6 Abs. 2 Satz 1 AStG 2007/§ 6 Abs. 2 Satz 2 AStG 2022, der ganz oder teilweise unentgeltliche Übertragungen erfasst und als Rechtsfolge die Dauer der unbeschränkten Steuerpflicht des Rechtsvorgängers dem Rechtsnachfolger zurechnet. [6]

    § 6 Abs. 2 Satz 1 AStG 2007 stellt noch auf ein „unentgeltliches Rechtsgeschäft“ ab. Erwirbt der Steuerpflichtige Anteile i.S.d. § 17 EStG unentgeltlich durch Rechtsgeschäft, ist der Zeitraum, während dessen der Rechtsvorgänger unbeschränkt steuerpflichtig war, dem Steuerpflichtigen zuzurechnen. Werden Anteile an Kapitalgesellschaften unentgeltlich durch Rechtsgeschäft übertragen, sind für die Errechnung der Dauer der unbeschränkten Steuerpflicht auch Zeiträume einzubeziehen, in denen der Rechtsvorgänger unbeschränkt steuerpflichtig war. Sinn der Regelung ist es, Umgehungen der Besteuerung durch Verlagerung der Anteile auf Personen zu verhindern, bei denen die Zehnjahresbedingung noch nicht erfüllt ist. Eine Zurechnung findet für Wegzüge bis 2021 nur statt, wenn der unentgeltliche Erwerb durch Rechtsgeschäft erfolgt. Ein Rechtsgeschäft setzt eine Willenserklärung voraus, weshalb ein Erwerb durch gesetzliche Erbfolge gemäß § 1922 BGB keine Zurechnung auslöst (siehe so auch Tz. 6.2.1 AEAStG). Hauptanwendungsfall ist die Schenkung. Erbvertrag, letztwillige Verfügung und Vermächtnis sind ebenfalls Rechtsgeschäfte, aber m.E. nicht vom Wortlaut erfasst. Nach dem Wortlaut ist nur der Sachverhalt erfasst, dass der Rechtsvorgänger die Anteile dem unbeschränkt Steuerpflichtigen überträgt: „… durch Rechtsgeschäft erworben …“, „… Zeiträume einzubeziehen, in denen der Rechtsvorgänger bis zur Übertragung der Anteile unbeschränkt steuerpflichtig war …“. Der Wortlaut setzt mithin ein aktives Tun des Rechtsvorgängers voraus. Wären Verfügungen von Todes wegen erfasst, würde die unbeschränkte Steuerpflicht des Rechtsvorgängers ggf. bereits vor der Übertragung der Anteile enden. Für dieses Auslegungsergebnis spricht im Übrigen auch der Sinn und Zweck der Norm, Umgehungen zu vermeiden. [7]

    Für Wegzüge ab 2022 spielt die Streitfrage keine Rolle mehr. § 6 Abs. 2 Satz 2 AStG 2022 stellt nur noch auf den unentgeltlichen Erwerb als solchen ab, egal ob er durch Rechtsgeschäft oder kraft Gesetzes erfolgt.

    Fallbeispiel 4

  3. Betroffene Kapitalgesellschaftsanteile

    Anteile an Kapitalgesellschaften
    § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG spricht von „Anteilen im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG“. Erfasst werden somit Anteile an einer Kapitalgesellschaft, die § 17 Abs. 1 Satz 3 EStG definiert als Aktien, Anteile an einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Genussscheine oder ähnliche Beteiligungen und Anwartschaften auf solche Beteiligungen. [8] Voraussetzung ist, dass sich die Beteiligung im Privatvermögen des Steuerpflichtigen befindet.

    Anwartschaften
    Der Wegzugsbesteuerung unterliegen nicht nur Aktien und GmbH-Geschäftsanteile, sondern auch die sonstigen Beteiligungsformen des § 17 EStG („ähnliche Beteiligungen“ und Anwartschaften). Sofern Anwartschaften unter § 6 AStG zu subsumieren sind, ist strittig, ob nur solche Anwartschaftsrechte als tatbestandsmäßig anzusehen sind, die sich gegen die Gesellschaft richten (vertikale Anwartschaft), nicht auch solche, die gegenüber Dritten bestehen (horizontale Anwartschaft). [9]


    Der Begriff der Anwartschaft iSd § 17 EStG ist im Gesetz nicht definiert. Der BFH folgt dem Zivilrecht. Im Zivilrecht versteht man unter einer Anwartschaft eine rechtlich (auch schuldrechtlich) bereits mehr oder weniger gesicherte Aussicht auf den Anfall eines subjektiven Rechts, insbesondere einer Forderung oder eines dinglichen Rechts, die darauf beruht, dass der normale Erwerbstatbestand eines solchen Rechts schon teilweise verwirklicht ist und seine Vollendung mit einiger Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann (BFH, Urt. 19.12.2007, VIII R 14/06, BStBl. II 2008, 475). Nicht erforderlich ist ein Anwartschaftsrecht im Sinne einer bereits gesicherten Rechtsposition, deren Erstarken zum Vollrecht allein vom Verhalten des Rechtsinhabers abhinge.

    Der Rückübertragungsanspruch aus einer Wertpapierleihe ist eine schuldrechtliche horizontale Anwartschaft, welche im Falle des Wegzugs des Anwartschaftsinhabers die Besteuerung nach § 6 AStG auslöst. [10]

    Fallbeispiel 4a
    Inländische und ausländische Anteile
    Die ursprüngliche Beschränkung auf inländische Anteile ist durch die Reform von § 6 AStG durch das SEStEG entfallen, so dass nunmehr auch ausländische Anteile an Kapitalgesellschaften der Wegzugsbesteuerung unterliegen. Ob es sich bei den Anteilen an dem ausländischen Rechtsträger um eine Kapitalgesellschaft i. S. v. § 17 EStG handelt, ist durch den sog. Typenvergleich zu bestimmen. Dabei wird darauf abgestellt, ob das ausländische Rechtsgebilde nach den wirtschaftlichen Strukturmerkmalen einer deutschen Kapitalgesellschaft (bzw. einer deutschen Personengesellschaft) vergleichbar ist. [12]

    Seitdem (inländische und ausländische) Personenhandelsgesellschaften gemäß § 1a KStG zur Körperschaftsteuer optieren dürfen, unterliegen auch die Anteile an optierten Personengesellschaften dem Anwendungsbereich von § 6 AStG.

Rechtsfolgen

Als Rechtsfolge normiert § 6 Abs. 1 S. 1 AStG 2007 die Anwendung von § 17 EStG, ohne dass die Beteiligung veräußert werden muss. § 6 AStG 2022 formuliert die Rechtsfolge etwas anders: „… der Veräußerung von Anteilen im Sinne des § 17 EStG stehen gleich“.

Beide Formulierungen regeln als Rechtsfolge einen (eingeschränkten) Rechtsgrundverweis sowie einen Rechtsfolgenverweis auf § 17 EStG. [13] Abgesehen von der Veräußerung müssen sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des § 17 EStG vorliegen. Die Rechtsfolgen ergeben sich ebenfalls aus § 17 EStG.

Klarstellend regelt § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AStG 2022 (erstmalig), dass die Veräußerung im Sinne des Satzes 1 im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht erfolgt. Dies war auch vorher nicht strittig.

  1. Voraussetzungen

    Beteiligungsschwelle
    Nach § 17 EStG ist die Veräußerung von privaten Anteilen an Kapitalgesellschaften steuerpflichtig, wenn der Veräußerer zu mindestens 1% am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar beteiligt war. Durch das Steuerentlastungsgesetz (StEntlG) 1999/‌2000/‌2002 [14] wurde die Wesentlichkeitsschwelle der Beteiligung mit Wirkung ab dem VZ 1999 von 25% auf 10% herabgesetzt. Die weitere Herabsetzung auf 1% erfolgte dann zum VZ 2002 durch das StSenkG.

    Beteiligungszeitraum
    Der Veräußerer muss innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft beteiligt gewesen sein. Die wesentliche Beteiligung muss nicht während des gesamten Fünfjahreszeitraums bestanden haben. Es reicht aus, wenn irgendwann innerhalb der letzten fünf Jahre die Beteiligungsschwelle überschritten worden ist. Folglich ist es nicht erforderlich, dass die Beteiligungsschwelle noch im Zeitpunkt des Wegzugs besteht.

    Abwandlung zu Fallbeispiel 4
    Nach § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG ist in den Fällen des unentgeltlichen Erwerbs von Anteilen hinsichtlich der Beteiligungsschwelle auch auf den Rechtsvorgänger abzustellen. Daher kann eine unentgeltliche Übertragung vor dem Wegzug (z.B. eine Schenkung unter nahen Familienangehörigen) nicht die Besteuerung der stillen Reserven verhindern.

    In der obigen Abwandlung zum Beispielsfall 4 löst die Schenkung des Onkels keine Einkommensteuer, ggf. aber Schenkungsteuer aus. Die Veräußerungen von 7 % der Anteile durch B in 1998 und von 7,1 % in 2001 sind ebenfalls einkommensteuerfrei. Die Besteuerung nach §§ 17, 23 EStG kommt nicht in Betracht, weil die Wesentlichkeitsschwelle von § 17 EStG (1998: 25 % / 2001: 10 %) nicht überschritten und die Haltefrist des § 23 EStG (1995: 1 Jahr) eingehalten worden ist.

    Fraglich ist, ob der Wegzug im Jahr 2009 zur Versteuerung der stillen Reserven in den Anteilen führt. Im Jahr 2009 war B in den letzten 5 Jahren nicht zu mindestens 1 % an einer inländischen Kapitalgesellschaft beteiligt, so dass keine Wegzugsbesteuerung stattfindet. Wäre B allerdings bereits im November 2006 weggezogen, lägen die Voraussetzungen des § 6 AStG vor, da B im Jahr 2001 wesentlich beteiligt war. Die rückwirkende Steuerverstrickung führt hier zu einer unzulässigen Ungleichbehandlung im Vergleich zu Anteilseignern, die ihre Anteile noch bis Ende 2001 verkauft hatten, da diese den Gewinn noch steuerfrei vereinnahmen konnten. 

    Das BVerfG hat bestätigt, dass diese Rechtsfolge unter dem Gesichtspunkt der Lastengleichheit nicht zulässig ist. Das BVerfG begründet seine Entscheidung damit, dass insoweit bereits eine konkrete Vermögensposition entstanden sei, die durch die rückwirkende Absenkung der Beteiligungsgrenze nachträglich entwertet werde. Die Herabsetzung der Wesentlichkeitsschwelle für die Beteiligung führt zu einer rückwirkenden Steuerverstrickung der Anteile. Durch den Wegzug des A würden die stillen Reserven gem. § 6 AStG versteuert. Das BVerfG hat mit Beschluss vom 7.7.2010 [15] entschieden, dass § 17 Absatz 1 Satz 4 i. V. m. § 52 Absatz 1 Satz 1 EStG i. d. F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG 1999/2000/2002) vom 24.3.1999 [16] gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes verstößt und nichtig ist, soweit in einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31.3.1999 entstanden sind und die entweder – bei einer Veräußerung bis zu diesem Zeitpunkt – nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei realisiert worden sind oder – bei einer Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes – sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung als auch zum Zeitpunkt der Veräußerung nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können. [17]

    Im Falle des Wegzugs im Jahr 2006 würde das bedeuten, dass nur die stillen Reserven, die nach Herabsetzung der Wesentlichkeitsschwelle auf 1% (ab 2002) entstanden sind, von der Besteuerung erfasst werden.

    Fallbeispiel 5
  2. (Fiktiver) Veräußerungsgewinn
    Ge­gen­stand der Besteuerung ist ein fiktiver Veräußerungsgewinn i. S. d. § 17 EStG. [18] Fiktive Veräußerungsverluste bleiben unberücksichtigt (siehe Rz. 0 ff.).

    Fallbeispiel 6
    Veräußerungspreis (gemeiner Wert)
    Gewinn ist gem. § 17 Abs. 2 EStG der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt. Da § 6 Abs. 1 AStG eine Veräußerung fingiert und somit ein Veräußerungspreis fehlt, gilt nach § 6 Abs. 1 Satz 3 AStG der gemeine Wert der Anteile im Zeitpunkt des Wegzugs als Veräußerungspreis.

    Für die Berechnung des fiktiven Veräußerungsgewinns ist demnach der gemeine Wert der Anteile im Zeitpunkt des Wegzugs den Anschaffungskosten der Anteile gegenüberzustellen, § 6 Abs. 1 Satz 3 AStG. Der gemeine Wert ergibt sich nach § 9 Abs. 2 BewG aus dem Preis, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr bei der Veräußerung zu erzielen wäre. Diesen Tatbestand konkretisiert § 11 Abs. 2 BewG für Anteile an einer Kapitalgesellschaft. [19] Danach wird der gemeine Wert in festgelegter Reihenfolge [20] entweder aus Verkäufen abgeleitet, die weniger als ein Jahr zurückliegen, oder unter Berücksichtigung der Ertragsaussichten der Kapitalgesellschaft (Ertragswertverfahren) oder nach einer anderen anerkannten, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nicht steuerliche Zwecke üblichen Methode geschätzt. Nur sofern keine zur Wertableitung geeigneten stichtagsnahen Verkäufe unter fremden Dritten vorliegen, kommt somit eine Wertermittlung nach einem Bewertungsverfahren in Betracht.

    Grundsätzlich findet die Ertragswertmethode Anwendung. [21] Dabei kann der Steuerpflichtige das vereinfachte Ertragswertverfahren (§ 199ff. BewG) in Anspruch nehmen. [22] Das Finanzamt ist daran gebunden, es sei denn, das Ergebnis ist offensichtlich unzutreffend. [23] Die Untergrenze ist immer der Substanzwert, § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG. [24]

    Das vereinfachte Ertragswertverfahren gem. §§ 199 ff. konkretisiert § 11 Abs. 2 BewG, [25] hinsichtlich dessen Anwendung dem Steuerpflichtigen nach einhelliger Auffassung ein Wahlrecht zukommt. [26] Beim vereinfachten Ertragswertverfahren ist bei der Ermittlung des Ertragswerts der zukünftig nachhaltig erzielbare Jahresertrag (§§ 201, 202 BewG) mit dem Kapitalisierungsfaktor von 13,75 nach Maßgabe des § 203 BewG zu multiplizieren. Der so zu ermittelnde Ertragswert, der bis zu dieser Berechnungsstufe lediglich das sog. betriebsnotwendige Vermögen abbildet, erfährt Modifizierungen nach besonderer Maßgabe der § 200 Abs. 2 bis 4 BewG. [27] Das Verfahren findet auch auf Anteile an ausländischen Kapitalgesellschaften ebenfalls Anwendung. [28]

    Insbesondere im Bereich des Venture Capitals und der Startup-Szene stellen sich in der steuerlichen Bewertungspraxis insofern Probleme, als Methoden, die auf vergangene Erträge zurückgreifen, in der Regel nicht zu adäquaten Bewertungsergebnissen führen (müssen), [29] weil in den ersten Wirtschaftsjahren dieser Unternehmen in der Regel Verluste verzeichnet werden. Bei solchen Unternehmen wird der vereinfachte Ertragswert bei Null liegen, der Substanzwert aufgrund von Investoreneinlagen ggf. höher. Die Finanzverwaltung schränkt die Anwendung der Ertragswertmethoden insbesondere für jüngere Unternehmen mit der Begründung ein, dass es sich in diesen Fällen um „offensichtlich unzutreffende Ergebnisse“ handele. [30] Ob die Annahme der Finanzverwaltung richtig ist, lässt sich zum Bewertungszeitpunkt nicht sagen, sondern hängt von der künftigen Entwicklung ab, welche zum Bewertungszeitpunkt nur eine Gewinnerwartung als ein Hoffnungswert ist. Eine Rückprojizierung von dem Bewertungsstichtag nachfolgend eintretenden Tatsachen ist abzulehnen. [31]

    Anschaffungskosten
    Die Anschaffungskosten bestimmen sich nach § 255 Abs. 1 HGB. Darunter fallen alle Kosten, die der Erwerber aufwendet, um die Anteile zu erlangen und zu erhalten. Dazu gehören auch die Anschaffungsnebenkosten (z. B. Provisionen) und nachträgliche Aufwendungen auf die Beteiligung, die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst sind und nicht zu den Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen gehören (z. B. verdeckte Einlagen). [32]

    Bei Anteilen, für die der Zuziehende nachweist, dass sie ihm bereits im Zeitpunkt des Zuzugs (Begründung der unbeschränkten Steuerpflicht) gehört haben, waren nach der Gesetzesfassung vor dem SEStEG gem. § 6 Abs. 1 Satz 2 AStG a. F. als Anschaffungskosten der gemeine Wert der Anteile im Zeitpunkt des Zuzugs anzusetzen. Diese Regelung gilt ab VZ 2007 nicht mehr, so dass die historischen Anschaffungskosten maßgeblich sind. Dies erklärt sich daraus, dass § 6 AStG ab VZ 2007 auch Anteile an ausländischen Kapitalgesellschaften erfasst.

    Bei einem Wegzug in Beispiel 6 im Jahr 2005 betrugen die Anschaffungskosten somit 200 (Gewinn 100). Alternative: Bei einem Wegzug im Jahr 2018 betrugen die Anschaffungskosten dagegen 100 (Gewinn 200).

    Sofern jedoch die Anteile im Wegzugsstaat einer vergleichbaren Wegzugsbesteuerung unterlegen haben, erlaubt § 17 Abs. 2 Satz 3 EStG einen Step-Up der Anschaffungskosten auf den Wert, den der Wegzugsstaat der Besteuerung zugrunde gelegt hat. Ein im Wegzugsstaat steuerpflichtiger aber faktisch nicht besteuerter Vermögenszuwachs führt nicht zur Aufstockung der Anschaffungskosten nach § 17 Abs. 2 Satz 3 EStG und unterliegt damit der Besteuerung in Deutschland. [33]

    Kein Step-Up findet hingegen gem. § 17 Abs. 2 Satz 4 EStG in den Fällen der vorübergehenden Abwesenheit nach § 6 Abs. 3 AStG statt. [34]

    Gewinnermittlung
    § 6 I 4 AStG, 
    § 17 II EStG
    § 17 II 3 EStG 
    Step Up
    § 6 AStG a.F. 
    (vor SEStEG)
    Gemeiner Wert300300300
    ./. Historische AK100--
    ./. Gem. Wert bei Zuzug-200200
    Veräußerungsgewinn200100100
    Eine neue (weitere) Step-Up-Regel enthält § 6 Abs. 1 Satz 3 AStG 2022, wonach die Anteile vom Stpfl. zum gemeinen Wert erworben gelten, soweit die auf den Veräußerungsgewinn entfallende Steuer entrichtet worden ist. Diese Regel ist im o.g. Beispielsfall nicht einschlägig. Sie hat aber Bedeutung, wenn der Stpfl. nach Wegzug seine Anteile tatsächlich veräußert. Im Falle der späteren Veräußerung ist der im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht (§ 49 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 e) EStG) zu erfassende Veräußerungsgewinn zu ermitteln. Vom Veräußerungspreis werden die Anschaffungskosten nach Maßgabe des § 6 Abs. 1 Satz 3 AStG ermittelt und abgezogen. Hat der Stpfl. die Wegzugssteuer vollständig entrichtet, richten sich die Anschaffungskosten nach dem gemeinen Wert bei Wegzug.
  3. Keine Berücksichtigung negativer (fiktiver) Veräußerungsgewinne
    Nach Auffassung des BFH sind bei der Anwendung des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG nur solche Beteiligungen zu berücksichtigen, für die sich im maßgeblichen Zeitpunkt des Wegzugs ein fiktiver Wertzuwachs ergibt. [35] Beteiligungen, deren fiktiver Veräußerungspreis unterhalb der Anschaffungskosten liegt und für die sich damit eine fingierte Wertminderung ergibt, können i.R.d. § 6 Abs. 1 S. 1 AStG nicht berücksichtigt werden. Dies soll selbst dann gelten, wenn nach Verrechnung mit anderen fingierten Wertzuwächsen insgesamt ein positiver Saldo verbliebe.

    Fallbeispiel 6a
    Einer Zusammenrechnung stehe nach BFH (a.a.O.) der „eindeutige“ Wortlaut der Norm entgegen, wonach die Vorschrift anteilsbezogen und nicht personenbezogen auszulegen sei. Entsprechend sei nach § 6 Abs. 1 S. 1 AStG nicht maßgeblich, ob die Gesamtheit der wesentlichen Beteiligungen zum Zeitpunkt des Wegzugs zu einem Vermögenszuwachs führt. Vielmehr sei jede wesentliche Beteiligung einer Einzelbetrachtung zuzuführen, wobei nur dann nach dem Willen des Gesetzgebers eine Wegzugsbesteuerung in Betracht kommt, wenn die jeweils in Bezug zu nehmende Beteiligung einen Vermögenzuwachs ausweist.

    Die Auslegung der Norm durch den BFH ist vertretbar, aber alles andere als eindeutig. Weder ist der Wortlaut eindeutig, noch gibt die Differenzierung zwischen anteilsbezogen und personenbezogen für die Auslegung der Norm etwas her. Hätte im Beispielsfall der Kläger seine Beteiligungen vor dem Wegzug veräußert, hätte er im Rahmen der Veranlagung Veräußerungsgewinne und Veräußerungsverlust saldieren können. Es sprechen die besseren Gründe dafür, diese Rechtsfolge auch im Fall bloß fiktiver Veräußerungen anzunehmen.

    Dass die „anteilsbezogene“ Betrachtungsweise nicht überzeugend ist, zeigt der Fall, dass ein Wegzügler Geschäftsanteile an einer GmbH mit unterschiedlichen Anschaffungskosten hält.

    Fallbeispiel 6b

  4. Anwendung des Teileinkünfteverfahrens
    Der ermittelte fiktive Veräußerungsgewinn unterliegt gem. §§ 3 Nr. 40 lit. c), 3c Abs. 2 EStG bis einschließlich Veranlagungszeitraum 2008 dem Halbeinkünfteverfahren, danach dem Teileinkünfteverfahren. [36]

  5. Step-Up
    Nach § 6 Abs. 1 Satz 3 AStG 2022 gelten die Anteile zum gemeinen Wert erworben, wenn die auf den Veräußerungsgewinn entfallende Steuer entrichtet worden ist (Step-Up). Relevant wird die Aufstockung der Anschaffungskosten auf den gemeinen Wert, wenn der Steuerpflichtige nach dem Wegzug seine Anteile veräußert.

    Eine Aufstockung der Anschaffungskosten erfolgt nur, soweit die auf den Vermögenszuwachs nach § 6 AStG geschuldete Steuer tatsächlich entrichtet wird. Wird die Steuer gestundet, gelten die Anteile weiterhin als zu den ursprünglichen Anschaffungskosten erworben. Die spätere Entrichtung der nach § 6 AStG geschuldeten Steuer stellt ein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 AO für einen der Wegzugsbesteuerung nachfolgenden Veräußerungsvorgang durch den Steuerpflichtigen dar.

Fall 2: Unentgeltliche Anteilsübertragung

§ 6 I 2 Nr. 1 AStG 2007
§ 6 I 1 Nr. 2 AStG 2022
Vermögensübertragung durch ganz oder teilweise unentgeltliches Rechtsgeschäft unter Lebenden oder durch Erwerb von Todes wegen auf beschränkt Steuerpflichtige
Unentgeltliche Übertragung auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person

Der Grundtatbestand des § 6 Abs. 1 Nr. 1 AStG erfasst den körperlichen Wegzug einer natürlichen Person.

Dem Wegzug werden gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 – Nr. 4 AStG 2007 vier Fallgruppen gleichgestellt, um Umgehungsgestaltungen möglichst auszuschließen. Diesen Fallgruppen ist gemein, dass ein körperlicher Wegzug des Steuerpflichtigen nicht stattfindet, die Beteiligung aber gleichwohl aus anderen Gründen aus der deutschen Besteuerungshoheit ausscheidet. Bis auf das Tatbestandsmerkmal „Wegzug“ müssen auch in diesen Fällen die Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sein.

Die Ergänzungstatbestände wurden durch § 6 AStG 2022 gestrafft und damit zugleich Lücken der bisherigen Ergänzungstatbestände geschlossen. § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG 2022 regelt neben dem Wegzug nur noch

  • die unentgeltliche Übertragung auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person (Nr. 2) sowie
  • als allgemeine Entstrickungsregel den Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts (Nr. 3).


Fallbeispiel 7
Steuerpflichtig ist die unentgeltliche Übertragung der Anteile. Die sprachlich gekürzte Neufassung entspricht inhaltlich der alten Formulierung in § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AStG 2007, wonach die Übertragung durch ganz oder teilweise unentgeltliches Rechtsgeschäft unter Lebenden oder durch Erwerb von Todes wegen auf nicht unbeschränkt steuerpflichtige Personen steuerpflichtig ist.

Die Vorschrift ist nicht einschränkend dahingehend auszulegen, dass das Recht Deutschlands einen Veräußerungsgewinn zu besteuern ausgeschlossen oder beschränkt wird. [37]

Tatbestandsmäßig ist auch der Erbfall. Die Erweiterung des Tatbestandes auf Übertragungen von Todes wegen wurde durch das SEStEG eingeführt, um missbräuchliche Steuerumgehungen zu vermeiden. Dies wird im Schrifttum zu Recht kritisiert. [38] Die Besteuerung im Erbfall kann zu unverhältnismäßigen finanziellen Belastungen führen, wenn neben der entstehenden Erbschaftsteuer (ggf. Erbschaftsteuer in zwei Staaten) auch noch ein fiktiver Veräußerungsgewinn zu versteuern ist. [39] Für eine solche kumulative steuerliche Belastung ist – anders als noch in der Vorgängerregelung – keine Anrechnung mehr vorgesehen. Entlastung ist nur über § 35b EStG möglich.

Umstritten ist, ob im Falle eines Erwerbs von Todes wegen der Erblasser oder der Erbe Steuerpflichtiger ist. [40] Die Frage ist durch die Rechtsprechung noch nicht geklärt und im Schrifttum umstritten. [41] Nach der gesetzlichen Konzeption kann Steuerpflichtiger nur der Erblasser sein. § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG regelt die Steuerpflicht des Wegzüglers, welcher Inhaber der Anteile ist. Tritt an die Stelle des Wegzugs ein Ersatztatbestand ändert dies nichts daran, dass der Inhaber der Anteile den Steuertatbestand verwirklicht. Im Falle der Schenkung ist dies der Schenker, im Erbfall der Erblasser. Durch § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AStG 2022 ist nunmehr klargestellt, dass die fiktive Veräußerung im Zeitpunkt der Übertragung stattfindet. Damit dürfte klargestellt sein, dass Schenker und Erblasser Steuerpflichtige sind. Diese Rechtsfolge führt in zahlreichen Fallgestaltungen am Maßstab der Leistungsfähigkeit zu unbefriedigenden Lösungen (z.B. nur ein Miterbe einer Erbengemeinschaft ist im Ausland ansässig; Erwerb aufgrund eines Vermächtnisses).

Erfolgt die Übertragung nicht voll unentgeltlich, sind teilentgeltliche Übertragungen für Zwecke der Anwendung des § 6 AStG in einen voll entgeltlichen und einen voll unentgeltlichen Anteil aufzuteilen; auf den voll unentgeltlichen Anteil findet § 6 AStG Anwendung.

Fall 3: Allgemeiner Entstrickungstatbestand

Einer Veräußerung der Geschäftsanteile zum gemeinen Wert stehen der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts gleich, § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG 2022. Die Regelung ist wortgleich mit § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG 2007. Die Neuregelung verzichtet darauf, die Doppelansässigkeit (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AStG 2007) und die Überführung in ausländisches Betriebsvermögen (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AStG 2007) eigens zu regeln. 

Der allgemeine Entstrickungstatbestand macht die Rechtsfolge (Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts) zur Tatbestandsvoraussetzung der Besteuerung. Er ersetzt die Ersatztatbestände nach altem Recht (Doppelansässigkeit, Einlage in Betriebsvermögen) nicht lückenlos. Doppelansässigkeit mit Ansässigkeit im DBA-Staat sowie Einlage in ein Betriebsvermögen führen zwar in der Regel, aber nicht immer zum Ausschluss oder zur Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts. 

Vom allgemeinen Entstrickungstatbestand sind insbesondere folgende Fälle erfasst:

  1. Doppelansässigkeit im Ausland
    § 6 I 2 Nr. 2 AStG 2007§ 6 I 1 Nr. 3 AStG 2022
    Begründung DBA-Ansässigkeit im Ausland
    • DBA tie breaker rules
    • z.B. Begründung eines Doppelwohnsitzes und Verlagerung des Lebensmittelpunktes ins Ausland
    (Fallgruppe weggefallen; erfasst vom Auffangtatbestand)

    Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile
    Der Veräußerung steht die Begründung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes oder die Erfüllung eines anderen ähnlichen Merkmals in einem ausländischen Staat gleich, wenn der Steuerpflichtige nach dem jeweiligen Doppelbesteuerungsabkommen in dem Staat als ansässig anzusehen ist. Dies gilt selbst dann, wenn Deutschland das Besteuerungsrecht nicht verliert. [42] Für Sachverhalte bis einschließlich VZ 2021 ist dies in § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AStG 2007 ausdrücklich geregelt. Dies betrifft insbesondere die Doppelwohnsitzfälle.

    Ab 2022 führt in Doppelwohnsitzfällen der Wegzug ins Ausland nur dann zur Besteuerung, wenn dadurch das deutsche Besteuerungsrecht entfällt oder beschränkt wird. Hier ergeben sich künftig Gestaltungsmöglichkeiten für den Steuerpflichtigen. Die Beibehaltung eines Inlandswohnsitzes kann im Verhältnis zur Schweiz die Wegzugsbesteuerung vermeiden.

    Fallbeispiel 8
    1. Rechtslage bis VZ 2021
      Besteuerungsvoraussetzungen nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AStG 2007 sind erfüllt, da A gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. a) DBA Schweiz für Zwecke des DBA als in der Schweiz ansässig gilt. Dies reicht für den Besteuerungstatbestand aus. Dass A aufgrund eines Wohnsitzes in Berlin unbeschränkt steuerpflichtig bleibt, ist unerheblich. 
    2. Rechtslage abVZ 2022: Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts
      Es gilt der allgemeine Entstrickungstatbestand, § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG 2022. Die Voraussetzungen sind erfüllt, wenn Deutschland durch den Wegzug des A in die Schweiz das Besteuerungsrecht für die GmbH-/B.V.-Anteile verliert oder wenn es beschränkt wird. 
      • Unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland
        A ist wegen seines Wohnsitzes in Berlin gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG unbeschränkt steuerpflichtig. Eine Veräußerung wäre nach § 17 Abs. 1 EStG steuerpflichtig. Dies gilt sowohl für die GmbH-Anteile als auch für die B.V.-Anteile. § 17 EStG erfasst auch die Veräußerung von Anteilen an ausländischen Kapitalgesellschaften.
      • Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts 
        Eine Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts kann sich aus den Verteilungsartikeln (Art. 6 bis Art. 22 DBA Schweiz) ergeben, wenn das Besteuerungsrecht dem Ansässigkeitsstaat zugewiesen ist. 

        Allerdings hebelt Art. 4 Abs. 3 DBA Schweiz die Verteilungsartikel aus. Gilt eine natürliche Person, die in der Bundesrepublik Deutschland über eine ständige Wohnstätte verfügt oder dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt von mindestens sechs Monaten im Kalenderjahr hat, nach Absatz 2 als in der Schweiz ansässig, so kann die Bundesrepublik Deutschland diese Person ungeachtet anderer Bestimmungen dieses Abkommens nach den Vorschriften über die unbeschränkte Steuerpflicht besteuern (sog. überdachende Besteuerung). Aufgrund der überdachenden Besteuerung behält Deutschland bei Doppelansässigkeit im Rahmen der unbeschränkten Steuerpflicht das Besteuerungsrecht für einen Veräußerungsgewinn. 

        Allerdings ist auch bei der überdachenden Besteuerung zu prüfen, ob das Besteuerungsrecht durch Freistellung entfällt oder durch Anrechnung beschränkt ist. Nach Art. 4 Abs. 3 Satz 3 DBA Schweiz rechnet Deutschland die schweizerische Steuer auf den Teil der deutschen Steuer an, der auf Grund dieser Bestimmung von diesen Einkünften über die deutsche Steuer hinaus erhoben wird, die nach den Artikeln 6 bis 22 hierfür erhoben werden dürfte. Deutschland muss eine schweizerische Steuer also nicht anrechnen, wenn es nach den Artikeln 6 bis 22 – hier: Art. 13 – besteuern dürfte. 

        Grundsätzlich kein deutsches Besteuerungsrecht:
        Grundsätzlich dürfte Deutschland nach Art. 13 Abs. 3 DBA Schweiz nicht besteuern. Nach Art. 13 Abs. 3 DBA Schweiz hat der Ansässigkeitsstaat das Besteuerungsrecht für Veräußerungsgewinne, die nicht einer Betriebsstätte zuzuordnen sind. Danach hat die Schweiz gemäß Art. 13 Abs. 3 DBA Schweiz das Besteuerungsrecht für Veräußerungsgewinne. 

        Fraglich ist, ob die Steuerfreistellung nach nationalem schweizerischem Recht [43] das deutsche Besteuerungsrecht im Ergebnis unbeschränkt lässt. Dies hängt davon ab, ob für die Beschränkung die abstrakte Gefährdung genügt oder ob die Beschränkung tatsächlich eintreten muss. Diese Frage ist umstritten und noch nicht entschieden. Nach wohl h.M. genügt die abstrakte Gefährdung des deutschen Besteuerungsrechts. Unerheblich sei, ob die Beschränkung des Besteuerungsrechts tatsächlich zu einer Minderung der Steuerbelastung führe. [44]

        Im Ergebnis ist das deutsche Besteuerungsrecht trotz Art. 4 Abs. 3 DBA Schweiz beschränkt, weil Deutschland eine schweizerische Steuer, wenn sie bei Veräußerung erhoben würde, anrechnen müsste.

        Ausnahme: deutsches Besteuerungsrecht bei wesentlicher Beteiligung
        Fraglich ist, ob das deutsche Besteuerungsrecht auch eingeschränkt ist, wenn die GmbH- / B.V.-Anteile unter die Regelung des Art. 13 Abs. 4 DBA Schweiz fallen.

        Deutschland hat unter den Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 4 DBA Schweiz ein Quellenbesteuerungsrecht auf Veräußerungsgewinne für die GmbH-Anteile, nicht für die B.V.-Anteile.

        Deutschland hat als Sitzstaat der Gesellschaft das Besteuerungsrecht für den Veräußerungsgewinn von wesentlichen Beteiligungen (> 25%), wenn der Veräußerer eine natürliche Person ist, die im Laufe der fünf Jahre vor der Veräußerung in Deutschland ansässig war und der Veräußerungsgewinn in der Schweiz keiner Steuer unterliegt, Art. 13 Abs. 4 DBA Schweiz. 

        Im Beispielsfall sind die Voraussetzungen für die GmbH-Anteile (nicht für die B.V.-Anteile) erfüllt. A ist eine natürliche Person, die im Lauf der fünf Jahre vor der Veräußerung in Deutschland ansässig war. Der (private) Veräußerungsgewinn ist in der Schweiz steuerfrei. [45] Im Rahmen von Art. 4 Abs. 4 DBA Schweiz behält Deutschland das deutsche Besteuerungsrecht für den Gewinn aus einer Veräußerung der GmbH-Anteile für einen Zeitraum von 5 Jahren nach Ablauf des Wegzugsjahrs. Während dieser Zeit ist das deutsche Besteuerungsrecht für die GmbH-Anteile nicht beschränkt. Die Voraussetzungen für eine Besteuerung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG 2022 sind für die GmbH-Anteile erst mit Ablauf des 5. Jahrens nach dem Wegzugsjahr erfüllt. 

        Im Ergebnis liegen die Voraussetzungen gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG 2022 für den GmbH Anteil erst vor, wenn Deutschland fünf Jahre nach dem Wegzug das Besteuerungsrecht verliert. A hat somit nur bezogen auf den B.V.-Anteil § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG 2022 (sofort) verwirklicht.
  2. Einlage in ausländisches Betriebsvermögen
    § 6 I 2 Nr. 3 AStG 2007§ 6 I 1 Nr. 3 AStG 2022
    EInlage / Überführung des Anteils in Betrieb oder Betriebsstätte der Stpfl. im Ausland(Fallgruppe weggefallen; erfasst durch Auffangtatbestand)

    Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile
    Fallbeispiel 9
    Bis VZ 2021 erfasst § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AStG 2007 die Fälle, in denen ein Steuerpflichtiger seine bisher im Privatvermögen gehaltene Kapitalgesellschaftsbeteiligung in eine ausländische Betriebsstätte oder einen ausländischen Betrieb einlegt. Der Grund für den Gesetzgeber, diesen Fall zu regeln, liegt darin, dass bei einer späteren Veräußerung der Anteile nach dem DBA Betriebsstättenvorbehalt (vgl. Art. 7 OECD-MA) das deutsche Besteuerungsrecht wegen der Freistellungsmethode ausgeschlossen oder zumindest beschränkt (funktionale Betrachtungsweise) wäre. Die Einlage einer Beteiligung im Sinne des § 17 EStG durch einen im Inland ansässigen unbeschränkt Steuerpflichtigen in einen ausländischen Betrieb oder in eine ausländische Betriebsstätte stellt grundsätzlich eine Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts im Sinne des § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 AStG dar; sei es, weil die Betriebsstättengewinne nach einem Doppelbesteuerungsabkommen freizustellen oder ausländische Steuern nach Doppelbesteuerungsabkommen oder § 34c EStG anzurechnen sind.

    Ab VZ 2022 gilt nur noch der allgemeine Entstrickungstatbestand, der grundsätzlich auch die Einlage in ein ausländisches Betriebsvermögen erfasst. Da § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG 2022 nur noch auf den Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts abstellt, ist zu prüfen, ob durch die Einlage in ein ausländisches Betriebsvermögen tatsächlich das deutsche Besteuerungsrecht eingeschränkt wird. Der BFH (v. 12.6.2019, X R 38/17) stellt an die Zuordnung zu einem ausländischen Betriebsvermögen neuerdings gesteigerte funktionale Anforderungen. Deshalb führt insbesondere die Einlage eines GmbH-Anteils in eine ausländische Personengesellschaft nicht automatisch zum Wegfall des deutschen Besteuerungsrechts.

  3. Sonstige Entstrickungsfälle
    § 6 I 2 Nr. 4 AStG 2007§ 6 I 1 Nr. 3 AStG 2022
    Ausschluss oder Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der AnteileAusschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile
    Fallgruppen:
    1. Passive Entstrickung
    2. Sitzverlegung Kapitalgesellschaft

    1. Passive Entstrickung durch abkommensrechtliche Zuordnung des Besteuerungsrechts
      Passive Entstrickung, zB durch Änderung DBABMF v. 26.10.2018, DStR 2018, 2339: passive Entstrickung zulässig
      Neue Zuordnung Besteuerungsrecht für Kapitalgesellschaftsanteile (Beispiel DBA Spanien 2012)FG Köln, Urt. v. 17.06.2021 - 15 K 888/18, BeckRS 2012, 23300 (Rev. eingelegt, AZ. BFH: I R 32/21)
      Die Besteuerung einer sog. "passiven Entstrickung" von Anteilen an einer spanischen Immobilien-Kapitalgesellschaft aufgrund des Inkratftretens des DBA-Spanien 2011 zum 01.01.2013 (BMF v. 26.10.2017, DStR 2018, 2339, unter 1.) ist jedenfalls vor Einführung der Stundungsregelung in § 6 Abs. 5 S. 3 Nr. 4 AStG unionsrechtswidrig. (Ls. n. amtl.)
      Relevant wird die passive Entstrickung ab 2022 mit Inkrafttreten des MLI-Anwendungsgesetzes für Italien.
      Fallbeispiel 10
      Durch § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG 2022 werden dem Wortlaut nach auch solche Fälle erfasst, die zum Wegfall oder zur Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts führen, ohne dass der Steuerpflichtige eine Handlung bezogen auf seine Anteile vornimmt (passive Entstrickung). [46]

      Zum 01.01.2013 ist das neue DBA-Spanien in Kraft getreten, wonach gem. Art. 13 Abs. 2 DBA-Spanien Gewinne, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Person aus der Veräußerung von Anteilen an einer Gesellschaft – oder vergleichbarer Beteiligungen – erzielt, deren Aktivvermögen zu mindestens 50 vom Hundert unmittelbar oder mittelbar aus unbeweglichem Vermögen besteht, das im anderen Vertragsstaat liegt, im anderen Staat besteuert werden können. [47]

      Steuerlich relevant wird die passive Entstrickung auch ab 2021 mit Inkrafttreten des MLI-Anwendungsgesetzes. Das Multilaterale Instrument (MLI) sieht Änderungen in 14 deutschen DBA vor. Die Immobiliengesellschaftsklausel des Art. 13 Abs. 4 OECD-MA 2017 (Art. 9 Abs. 4 MLI) wird in das DBA-Italien und das DBA-Slowakei übernommen. Beruht der Wert der Anteile zu mehr als 50% unmittelbar oder mittelbar auf unbeweglichem Vermögen im Sitzstaat der Gesellschaft, kann der Sitzstaat nach dieser Regelung besteuern. [48]

      Im Fall einer italienischen Immobiliengesellschaft mit deutschem Gesellschafter wird im Zeitpunkt des Inkrafttretens der DBA-Änderung das Recht Deutschlands, die Anteile an der Immobiliengesellschaft zu besteuern, beschränkt, da Deutschland die italienische Steuer auf einen Veräußerungsgewinn anrechnen muss. Im Fall einer slowakischen Immobiliengesellschaft ändert sich mit Inkrafttreten der DBA-Änderung nichts, da die Slowakei bereits aufgrund der bestehenden Vertragsfassung solche Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an slowakischen Immobiliengesellschaften besteuern darf.

      Die Rechtmäßigkeit der Besteuerung einer passiven Entstrickung ist umstritten. Die Finanzverwaltung hält die passive Entstrickung für rechtmäßig. [49] Der Tatbestand des Ausschlusses oder der Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland iSd § 6 Abs. 1 Nr. 4 AStG 2007, § 4 Abs. 1 S. 3 EStG, § 12 Abs. 1 KStG oder gleichlautender Vorschriften setze keine Handlung des Steuerpflichtigen voraus. Er könne unabhängig von einer Handlung des Steuerpflichtigen durch eine Änderung der rechtlichen Ausgangssituation ausgelöst werden. Das BMF bezieht sich ausdrücklich auf die Änderung der DBA Spanien und Luxemburg. In diesen Fällen träten die Rechtsfolgen der Entstrickung im Zeitpunkt der erstmaligen Anwendbarkeit des erstmals abgeschlossenen oder revidierten DBA ein. Bezogen auf das revidierte DBA mit Luxemburg v. 23.4.2012 sei dies gemäß Art. 30 Abs. 2 dieses Abkommens der 1.1.2014 und bezogen auf das revidierte DBA mit Spanien v. 3.2.2011 gemäß Art. 30 Abs. 2 dieses Abkommens der 1.1.2013.

      Die Auffassung der Finanzverwaltung ist rechtswidrig. [50] Einkommensteuer und Körperschaftsteuer besteuern das Markteinkommen, welches der Steuerpflichtige aufgrund seiner Tätigkeit erzielt. Die passive Entstrickung ist nichts anderes als die Auflösung stiller Reserven kraft Gesetzes. Dem liegt keine zurechenbare Tätigkeit des Steuerpflichtigen zugrunde. Eine Besteuerung wäre in diesem Fall m.E. verfassungswidrig (Willkürverbot, Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip Art. 3 Abs. 1 GG), weil die Verwirklichung eines ertragsteuerlichen Tatbestandes eine Tätigkeit des Steuerpflichtigen voraussetzt.
  4. Sitzverlegung einer Kapitalgesellschaft
    Ein weiterer Fall ist die Sitzverlegung einer Kapitalgesellschaft in einen der vorgenannten Staaten, wenn hierdurch das deutsche Besteuerungsrecht an den Anteilen verloren geht, weil beispielsweise das DBA das Besteuerungsrecht für Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften dem Sitzstaat der Gesellschaft zuweist (z. B. Sitzverlegung der Kapitalgesellschaft nach Tschechien, Slowakei).

    Im Fall der Sitzverlegung tritt § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG in Konkurrenz zu § 17 Abs. 4 und Abs. 5 EStG, wenn der Beschluss über die Sitzverlegung als Auflösungsbeschluss zu werten ist.

    Auflösungsbesteuerung – nicht-identitätswahrende Sitzverlegung
    Im Zusammenhang mit der Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften wird immer wieder diskutiert, dass bei dem Gesellschafter ein Auflösungsgewinn (ggf. Auflösungsverlust) nach § 17 Abs. 4 EStG zu besteuern ist. Dies beruht darauf, dass – früher regelmäßig, nach dem Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) nur noch in Sonderfällen – der Sitzverlegungsbeschluss als Auflösungsbeschluss gewertet worden ist. Heute führt die Sitzverlegung nur noch in Drittstaatenfällen zur Auflösung der Gesellschaft, wenn

    - der (nurSatzungssitz in einen Drittstaat verlegt werden soll oder 

    - der Verwaltungssitz in einen Drittstaat verlegt wird und der Zuzugsstaat nur solche Gesellschaften als auf seinem Hoheitsgebiet ansässig anerkennt, die nach seinem Recht gegründet worden sind. 

    Unter Geltung der Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU und des EWR führen weder die Verlegung des Verwaltungssitzes noch – seit EuGH Polbud – die Verlegung (nur) des Satzungssitzes zur Auflösung der Gesellschaft.

    Aufgrund der Auflösungsfiktion ist es somit denkbar, dass § 6 Abs. 1 AStG in Konkurrenz zu § 17 Abs. 4 EStG für die Kapitalrückzahlung aus dem Nominalkapital und der Kapitalrücklage [und § 20 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 EStG für die Gewinnausschüttung aus der Gewinnrücklage] tritt. Die Auflösungsbesteuerung nach § 17 Abs. 4 EStG tritt m.E. jedoch nicht neben oder an die Stelle der Schlussbesteuerung nach § 6 Abs. 1 AStG. Die Besteuerung eines Auflösungsgewinns setzt voraus, dass dieser Gewinn nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung entsteht. Dies setzt nicht lediglich einen Auflösungsbeschluss, sondern die Beendigung der Abwicklung der Gesellschaft voraus. [51] Hierfür spricht auch, dass ein Auflösungsgewinn wegen des gesellschaftsrechtlichen Sperrjahres (§ 73 Abs. 1 GmbHG) regelmäßig nicht im Veranlagungsjahr der Sitzverlegung zu besteuern wäre.  

    Entstrickung – Identitätswahrende Sitzverlegung
    § 17 Abs. 5 Satz 1 EStG besteuert den Anteilseigner im Falle einer identitätswahrenden Sitzverlegung, wenn durch die Sitzverlegung das deutsche Besteuerungsrecht beschränkt oder ausgeschlossen wird. Die Beschränkung auf die identitätswahrende Sitzverlegung ergibt sich zwar nicht aus dem Gesetzeswortlaut, aber aus dem systematischen Verhältnis zu § 17 Abs. 4 EStG. [52]

    Nach dem Stand des deutschen internationalen Gesellschaftsrechts können eine Europäische Gesellschaft (SE/‌SCE) sowie – seit EuGH Polbud – auch andere Kapitalgesellschaften im Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ihren Satzungssitz identitätswahrend verlegen. Der Verwaltungssitz kann seit Inkrafttreten des MoMiG zum 01.11.2008 bei deutschen Kapitalgesellschaften frei gewählt werden. In Betracht kommt außerdem die Verlegung des Verwaltungssitzes einer im Ausland gegründeten Gesellschaft von Deutschland ins Ausland (zurück in den Gründungsstaat oder in einen anderen Zuzugsstaat), wenn Gründungs- und Zuzugsstaat der Gründungstheorie folgen. Für den steuerlichen Wegzug nach Tschechien oder in die Slowakei genügt es, wenn der Verwaltungssitz verlegt wird. Denn schon dadurch wird das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile an der Kapitalgesellschaft ausgeschlossen (Art. 4 Abs. 3, 13 Abs. 3 DBA-Tsche­chien).

    § 17 Abs. 5 EStG wird durch § 6 AStG nicht verdrängt (§ 6 Abs. 1 Satz 1 AStG 2022: „Vorbehaltlich der Vorschriften des Einkommensteuergesetzes …“). § 17 Abs. 5 EStG geht § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG 2022 vor. Dieser Vorrang ist wegen § 17 Abs. 5 Satz 2 EStG bedeutsam, der für identitätswahrende Sitzverlegungen innerhalb der Europäischen Union eine Ausnahme von der Wegzugsbesteuerung normiert. Nach § 17 Abs. 5 Satz 2 EStG entsteht die Steuer nicht.

    Das Verhältnis von § 17 Abs. 5 EStG und § 6 AStG hat praktische Bedeutung:
    Die ursprüngliche Fassung von § 6 Absatz 5 Satz 3 AStG 2007 sah für allgemeine Entstrickungssachverhalte innerhalb der EU kein EU-Privileg im Sinne der zinslosen Stundung ohne Sicherheitsleistung vor. Daher war der Vorrang von § 17 Abs. 5 EStG in Sitzverlegungsfällen praktisch bedeutsam. Der Gesetzgeber besserte zugunsten des Steuerpflichtigen nach. Die ab 2015 geltende Fassung sieht in EU-Fällen eine Stundung vor, die rückwirkend auch auf Fälle anzuwenden ist, in denen die Steuer noch nicht bezahlt ist (§ 21 Abs. 23 AStG). Mit dem Wegfall des EU-Privilegs ab VZ 2022 wird der Vorrang von § 17 Abs. 5 EStG wieder praktisch relevant.

Teil 2

D - Rück-Korrekturtatbestände, „Erleichterungs“-Tatbestände
E - Aufschub der Fälligkeit / Stundung
F - Unionsrechtliche Vorgaben 

Weiter zu Teil 2

Teil 3

G - Probleme der Doppelbesteuerung
H - Möglichkeiten zur Vermeidung der Wegzugsbesteuerung 

Weiter zu Teil 3

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