Stille Reserven in Kapitalgesellschaftsanteilen
Teil 1
A - Zweck
Verlegt eine natürliche Person, die in Deutschland in den letzten 12 Jahren mindestens 7 Jahre unbeschränkt steuerpflichtig war, ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt ins Ausland, werden nach § 6 AStG die stillen Reserven in den Anteilen an in- und ausländischen Kapitalgesellschaften sowie an optierten Personengesellschaften (§ 1a KStG) besteuert. Es ist nicht entscheidend, wo sie hinzieht (DBA‑/Nicht-DBA-Staat, Niedrig‑/Hochsteuerland).
Zweck der Regelung ist, das deutsche Besteuerungsrecht an stillen Reserven von im Privatvermögen gehaltenen Anteilen an Kapitalgesellschaften zu sichern. [1] Dabei ergibt sich der Verlust des deutschen Besteuerungsrechts im Wegzugsfall im Regelfall aus der Anwendung der DBA. Zwar unterliegt der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften der inländischen beschränkten Steuerpflicht (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 e) EStG), die DBA weisen aber regelmäßig das Besteuerungsrecht dem Ansässigkeitsstaat des Anteilseigners zu (vgl. Art. 13 Abs. 5 OECD-MA; Ausnahmen: z. B. DBA-Tschechien, DBA-Slowakei oder neuerdings DBA mit Sonderregelung für Immobiliengesellschaften nach Art. 13 Abs. 4 OECD-MA). Der Gesetzgeber hätte, um seinen Besteuerungsanspruch zu sichern, die Wegzugsbesteuerung auf solche Fälle beschränken können, in denen das Besteuerungsrecht ausgeschlossen oder beschränkt wird. Dies hat er nicht getan. Die Wegzugsbesteuerung nach § 6 Abs. 1 AStG greift auch in Nicht-DBA-Fällen oder in solchen DBA-Fällen ein, die dem Wegzugsstaat das Besteuerungsrecht belassen.
§ 6 AStG bewirkt eine zeitliche Vorverlagerung der Besteuerung stiller Reserven, wodurch auch Regelungen in DBA unterlaufen werden. [2] Da die stillen Reserven zudem regelmäßig besteuert werden, wenn der Steuerpflichtige seine Anteile im Ausland tatsächlich veräußert, liegt die Gefahr einer ganzen oder teilweisen Doppelbesteuerung auf der Hand. Ob eine solche Doppelbesteuerung vermieden werden kann, hängt im Wesentlichen vom Steuerrecht des Zuzugsstaates ab. [3]
Das Gesetz stellt den Wegzug mit einer Beteiligung einer Veräußerung der Beteiligung gleich. Der Wegzug fingiert eine Veräußerung, wodurch es zu einer Besteuerung eines bloß fiktiven Veräußerungsgewinns kommt. Eine tatsächliche Gewinnrealisierung findet nicht statt. Die Besteuerung eines bloß fingierten Gewinns durchbricht das Realisationsprinzip im Steuerrecht. Die wegzugsbedingte Steuerbelastung ist für den Steuerpflichtigen deshalb besonders nachteilig, weil keine tatsächliche Veräußerung und damit kein Zufluss von Liquidität erfolgt, aus der die Steuer bezahlt werden könnte. [4] § 6 AStG enthält zwar Regelungen, die die Belastung mindern sollen, allerdings verbleibt es bei einer Liquiditätsbelastung für den Steuerpflichtigen. [5]
Aus der Veräußerungsfiktion folgt u.U. nicht nur, dass der Veräußerungsgewinn für das Wegzugsjahr in der Steuererklärung zu erfassen ist. Gemäß § 138 Abs. 2 Nr. 3 AO kann eine gesonderte Anzeigepflicht bestehen. Unbeschränkt Steuerpflichtige haben den Erwerb und die Veräußerung von Beteiligungen an ausländischen Kapitalgesellschaften anzuzeigen, wenn die Beteiligung an der Kapitalgesellschaft 10% des Kapitals übersteigt oder die Summe der Anschaffungskosten aller Beteiligten 150.000 EUR übersteigt. Die Finanzverwaltung sieht ferner den Fall der sog. passiven Entstrickung nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG 2007 als einen anzeigepflichtigen Sachverhalt an. [6]
B - Rechtsentwicklung
§ 6 AStG gilt als „lex Horten“. Die Bezeichnung bezieht sich auf den seinerzeitigen Anlassfall. § 6 AStG ist die Antwort des Gesetzgebers auf prominente Wegzugsfälle (in der Regel in die Schweiz) Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Gesetzgeber führte daraufhin § 6 mit dem AStG im Jahr 1972 ein.
§ 6 AStG wurde am 07.12.2006 durch das „Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften“ (SEStEG) völlig neu gefasst und ist erstmalig für Sachverhalte ab 2007 anwendbar. Gegen die Vorläuferbestimmung bestanden in der Literatur durchgreifende europarechtliche Bedenken, die der EuGH mit Urteil vom 11.03.2004 in der Rechtssache „Lasteyrie du Saillant“ – betreffend die vergleichbare französische Regelung – bestätigte. [1] Eine Schlussbesteuerung anlässlich eines Wegzugs in einen anderen EU-/EWR-Mitgliedstaat ist danach grundsätzlich unzulässig. Der EuGH hat in dem Urteil „N“ an seine Rechtsauffassung noch einmal bestätigt. [2]
§ 6 AStG 2007 in der Fassung des SEStEG bezweckt, den europarechtlichen Mangel zu beseitigen, indem bei einem Wegzug in einen EU-/EWR-Mitgliedstaat die festgesetzte Steuer zinslos und unbefristet gestundet wird. Die Stundungsregelung wird dabei durch umfangreiche Verfahrenspflichten des Steuerpflichtigen zur Sicherung des gestundeten Steueranspruchs begleitet.
§ 6 AStG 2007 ist seit dem SEStEG bis einschließlich 2021 im Wesentlichen unverändert geblieben. Zwischenzeitlich hat die Rechtsprechung des EuGH allerdings einen Paradigmenwechsel vollzogen, der zunächst die Verlagerung von Betriebsvermögen [3], danach aber auch den Wegzug natürlicher Personen betrifft. Der EuGH hält zwar am Verbot der Sofortversteuerung fest, lässt jedoch Steuerstundung gegen Sicherheitsleistung zu. Damit wird das Sofortversteuerungsverbot faktisch abgeschafft und durch ein Ratenzahlungsgebot ersetzt. Bezog sich die Neuausrichtung der Rechtsprechung des EuGH zunächst auf sog. sachliche Entstrickungsfälle (Verlagerung von Betriebsvermögen oder Sitzverlegung von Gesellschaften), hat der EuGH durch das Urteil Portugal II die fiskalfreundliche Rechtsprechung mittlerweile auch auf die Besteuerung von stillen Reserven in Anteilen an Kapitalgesellschaften anlässlich des Wegzugs natürlicher Personen ausgeweitet. [4]
Etwa zeitgleich zur fiskalfreundlichen Neujustierung der EuGH-Rechtsprechung wurde am 19.07.2016 die Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12.07.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes (sog. Anti-Tax Avoidance Directive; im Folgenden: ATAD-Richtlinie) im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Mit der ATAD-Richtlinie verfolgt der Unionsrechtsgeber das Ziel, „eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung innerhalb der Europäischen Union zu gewährleisten“. [5] Die Richtlinie ist bis zum 31.12.2018 umzusetzen und ab dem 1.1.2019 anzuwenden und enthält auch Regelungen zur Wegzugsbesteuerung. Die Richtlinie regelt am Maßstab der neuen EuGH-Rechtsprechung die Mindestanforderungen zum Schutze der Grundfreiheiten, die hinter dem deutschen Schutzniveau zurückbleiben. Anpassungsbedarf besteht für den deutschen Gesetzgeber nicht. Der deutsche Gesetzgeber nimmt die Richtlinie dennoch zum Anlass, durch das ATAD-Umsetzungsgesetz (ATADUmsG) das bisherige bürgerfreundliche Stundungssystem für EU-/EWR-Sachverhalte mit Wirkung zum VZ 2022 durch ein Ratenzahlungssystem mit Sicherheitsleistung zu ersetzen.
Die nachfolgende Darstellung geht sowohl auf die Rechtslage vor 2022 als auch auf die Rechtslage danach ein. Sofern sich § 6 AStG inhaltlich verändert hat, wird die Norm mit dem Zusatz „2007“ oder „2022“ zitiert. § 6 AStG 2007 betrifft die Sachverhalte, die durch das SEStEG mit Wirkung zum 01.01.2007 neu geregelt wurden. § 6 AStG 2022 betrifft die Sachverhalte, die durch das ATAD-Umsetzungsgesetz vom 25.6.2021 mit Wirkung zum 01.01.2022 geregelt werden.
§ 6 AStG 2007 | §§ 6 AStG, 21 III 2022 |
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Alle Wegzüge bis einschließlich 2021 | Wegzüge ab 2022 |
Zum zeitlichen Anwendungsbereich (§ 21 Abs. 3 S. 1 AStG idF des JStG 2022): „Wurde ein Tatbestand des § 6 Abs. 1 in einer bis zum 30.6.2021 geltenden Fassung vor dem 1.1.2022 verwirklicht, ist § 6 in der am 30.6.2021 geltenden Fassung für die Abwicklung dieses Falles über den 31.12.2021 hinaus anzuwenden.“ Damit hat der Gesetzgeber eine (m.E. nur scheinbare) Unsicherheit [6] bei der Auslegung beseitigt, was zu begrüßen ist. Die Auslegung von § 21 Abs. 3 AStG idF des ATADUmsG kam zu keinem anderen Ergebnis. Für Wegzüge (fiktive Veräußerungen) vor 2022 gilt uneingeschränkt die alte Regelung.
Durch § 1a KStG, eingeführt durch das Körperschaftsteuermodernisierungsgesetz, unterfallen nunmehr auch Anteile an optierten Personengesellschaften in den Anwendungsbereich von § 6 AStG 2022.
Teil 2
D - Rück-Korrekturtatbestände, „Erleichterungs“-Tatbestände
E - Aufschub der Fälligkeit / Stundung
F - Unionsrechtliche Vorgaben
Teil 3
G - Probleme der Doppelbesteuerung
H - Möglichkeiten zur Vermeidung der Wegzugsbesteuerung
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