Fallbeispiele
Beispiel 1
Mandant (S) ist verheiratet und lebt mit Frau und schulpflichtigen Kindern in einem Einfamilienhaus in Deutschland. Er möchte aus Deutschland aus steuerlichen Gründen wegziehen, knüpft hieran aber Bedingungen:
1. S fährt täglich zu seiner Arbeitsstätte nach Deutschland zurück.
2. Das Einfamilienhaus soll nicht verkauft werden.
3. Frau und Kinder sollen möglichst im Einfamilienhaus wohnen bleiben.
Kann S unter den Bedingungen 1. – 3. steuerlich wirksam aus Deutschland wegziehen?
Kann S unter den Bedingungen 1. + 2. aus Deutschland steuerlich wirksam wegziehen?
Beispiel 2
BFH v. 15.05.2002, I R 40/01, BStBl. II 2002, 660: K ist niederländischer Staatsangehöriger. Er wohnte bis zum 16. Februar 1997 (Streitjahr) im Inland und erzielte bis zu diesem Zeitpunkt Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Vom 17. Februar 1997 an wohnte K in den Niederlanden, wo er ebenfalls nichtselbständig tätig war. Die im Streitjahr in den Niederlanden erzielten Einkünfte waren höher als diejenigen, die der Kläger bis zu seinem Wegzug erzielt hatte.
Ein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit liege nicht vor. Denn auch wenn der Steuerpflichtige seinen Wohnsitz in Deutschland beibehalten hätte, wären die in- und ausländischen Einkünfte bei der Bemessung des Steuersatzes zu berücksichtigen. Die Erhöhung des Steuersatzes beruhe also nicht auf dem Wegzug, sondern darauf, dass der Steuerpflichtige nach dem Wegzug noch ausländische Einkünfte erziele.[12] Der BFH sah keine Veranlassung, die Frage dem EuGH vorzulegen, weil der Progressionsvorbehalt durch die Asscher-Entscheidung des EuGH[13] inzidenter anerkannt worden sei. Diese Auffassung des BFH ist kritisch zu sehen, weil der EuGH im Fall Asscher nicht (auch nicht inzidenter) über den Progressionsvorbehalt entschieden hat.
Beispiel 3[3]
A, kanadischer Staatsbürger, war in Deutschland bis zum Jahre 2004 insgesamt 6 Jahre und 8 Monate unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Ende August 2004 zog A zurück nach Kanada. Anfang 2018 kehrte er beruflich nach Deutschland zurück, wo er für diese Zeit einen Wohnsitz begründete. Ende 2021 kehrte A auf Dauer nach Kanada zurück. A hält 50% des Kapitals an einer inländischen GmbH. Hat A den Tatbestand des § 6 Abs. 1 AStG verwirklicht?
Abwandlung: A kehrt nicht Ende 2022, sondern erst im Januar 2022 nach Kanada zurück.
Beispiel 4
B, kanadischer Staatsbürger, wohnte 4 Jahre in Berlin, bevor er 2021 [Abwandlung 2022] wieder nach Montreal zog. Im Zeitpunkt seines Wegzugs war B an einer inländischen Kapitalgesellschaft zu 1% beteiligt. Die Beteiligung hatte er ein Jahr zuvor von seinem Onkel O geschenkt bekommen, der zwischen 1950 und 2006 in Münster lebte. Hat B den Tatbestand des § 6 I AStG verwirklicht?
Ausgangsfall: Für die Berechnung der Zeit der unbeschränkten Steuerpflicht des B im obigen Beispiel 4 ist die unbeschränkte Steuerpflicht des O gem. § 6 Abs. 2 S. 1 AStG 2007 einzubeziehen. Danach ist die 10-Jahresbedingung erfüllt, weil der Onkel mehr als 10 Jahre in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig war. Der Vermögenszuwachs in der Beteiligung des B ist somit gem. § 6 Abs. 1 AStG steuerpflichtig.
Abwandlung: B muss innerhalb der letzten 12 Jahre vor dem Wegzug mindestens 7 Jahre unbeschränkt steuerpflichtig gewesen sein, § 6 Abs. 2 Satz 2 AStG 2022. Die Voraussetzung erfüllt B persönlich nicht. Ob die unbeschränkte Steuerpflicht des O dem B zu zugerechnet werden darf, ist fraglich, weil O innerhalb der letzten 12 Jahre selbst nicht unbeschränkt steuerpflichtig war. M.E. scheidet eine Zurechnung in diesem Beispielsfall aus. Sind beim Steuerpflichtigen persönlich solche Zeiten der unbeschränkten Steuerpflicht, welche außerhalb des 12-Jahreszeitraums liegen, nicht tatbestandsmäßig, kann für die Zurechnung nichts anderes gelten. Zeiträume, welche bei Verwirklichung durch den Steuerpflichtigen nicht tatbestandsmäßig wären, sind dem Steuerpflichtigen nicht zurechenbar, wenn die Zeiträume durch Dritte verwirklicht werden.
Abwandlung Beispiel 4
Wie wäre der Fall zu beurteilen, wenn B von seinem Onkel im Jahre 1995 einen Anteil von 15 % geschenkt bekommen hätte, B im November 1998 einen Anteil von 7 % und im Dezember 2001 weitere 7,1 % der Anteile veräußert hätte? Anmerkung: Für wesentliche Beteiligungen i. S. v. § 17 EStG gelten folgende Schwellensätze, wenn das Wirtschaftsjahr dem Kalenderjahr entspricht: bis 31.12.1998: 25 %; 01.04.1999 – 2001: 10 %; ab 2002: 1%.
Beispiel 5
Die Geschwister A und B, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, erben im Januar 2021 von der Mutter eine 2%ige Beteiligung an einer inländischen Kapitalgesellschaft, und zwar A zu ¼ und B zu ¾. A verlegt im März 2021 seinen Wohnsitz nach Zürich. Hat A durch den Wegzug einen Steuertatbestand verwirklicht?
Problem: A war zu keinem Zeitpunkt mindestens 1 % beteiligt. Nach § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG wird ihm jedoch die 2-%-Beteiligung seiner Mutter zugerechnet. Die Voraussetzungen von § 6 Abs. 1 AStG liegen somit vor.
Beispiel 6
Niederländer N hält eine 25-%-Beteiligung an einer deutschen Kapitalgesellschaft. Historische Anschaffungskosten betrugen 100. Im Jahr 1994 zieht er nach Deutschland (gemeiner Wert im Zuzugszeitpunkt: 200). Im Jahr 2005 (Alternativ: 2018) zieht er wieder in die Niederlande (gemeiner Wert im Wegzugszeitpunkt: 300). Frage: Wie hoch ist der nach § 6 AStG zu versteuernde Gewinn?
Beispiel 6b
Wegzügler A hält die Geschäftsanteile Nr. 1 und Nr. 2 an einer GmbH. Der gemeine Wert beider Anteile beträgt zusammen 300.000 EUR. Den Geschäftsanteil Nr. 1 erwarb A bei Gründung für Anschaffungskosten in Höhe von 25.000 EUR. Den Geschäftsanteil Nr. 2 im Rahmen einer späteren Kapitalerhöhung für Anschaffungskosten in Höhe von 500.000 EUR, wovon 25.000 EUR auf das Stammkapital und 475.000 EUR auf das seinerzetige Agio entfallen.
Jeder Geschäftsanteil begründet für sich eine Beteiligung i.S.v. § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG, die einzeln oder zusammen veräußert werden können. Unterstellt, der gemeine Wert beider Geschäftsanteile würde im Zeitpunkt des Wegzugs zusammen 300.000 EUR betragen, wäre damit zu rechnen, dass nach Auffassung des I. Senats für den Geschäftsanteil Nr. 1 ein Veräußerungsgewinn in Höhe von 125.000 EUR (gemeiner Wert Anteil Nr. 1 = 150.000 EUR ./. AK 25.000 EUR) und für Geschäftsanteil Nr. 2 ein nicht zu berücksichtigender Verlust in Höhe von 200.000 EUR (300.000 EUR ./. 500.000 EUR) ermittelt würde. Richtigerweise liegt im Beispiel 6b ein Vermögensverlust von -200.000 EUR vor, der keine Wegzugsbesteuerung auslöst.
Beispiel 7
A, der seit langem in Deutschland lebt, schenkt dem B, wohnhaft im Ausland, seinen Anteil (> 1%) an einer Kapitalgesellschaft. Nach dem geltenden DBA darf Deutschland als Quellenstaat den Veräußerungsgewinn im Falle der Veräußerung durch B [Alt. 1] besteuern / [Alt. 2] nicht besteuern
Da A nicht wegzieht, bleibt er in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig. Dennoch löst die Schenkung die Besteuerung nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AStG 2007/§ 6 Abs 1 Satz 1 Nr. 2 AStG 2022 aus. Ob Deutschland das Besteuerungsrecht verliert oder nicht ist unerheblich.
Beispiel 8
Der deutsche Staatsangehörige A zieht nach seiner Pensionierung in die Schweiz (Lebensmittelpunkt). Er behält seine Wohnung in Berlin, die er bei seinen Aufenthalten in Berlin selbst nutzt. Muss A im Zeitpunkt des Wegzugs in die Schweiz seinen fiktiven Veräußerungsgewinn bezüglich seines Anteils (> 25%) an einer deutschen GmbH sowie an einer niederländischen BV (> 25%) versteuern?
Beispiel 9
A legt seine GmbH-Beteiligung (> 1%) in eine ausländische Betriebsstätte eines DBA-Staates ein. Ist dieser Vorgang steuerpflichtig?
Beispiel 10
Steuerinländer A hält Anteile an einer spanischen Immobilien S.A. Hat er in seiner Steuererklärung für 2013 einen Veräußerungsgewinn zu erklären?
Beispiel: BFH, Urt. v. 21.12.2022 – I R 55/19
Der Kläger zog 2014 nach Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten und gab damit seinen inländischen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt auf. Zu diesem Zeitpunkt hielt er Beteiligungen an mehreren im Inland ansässigen Kapitalgesellschaften. Zwei Jahre später begründete er wieder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Das Finanzamt erfasste bei der Einkommensteuerveranlagung für 2014 Veräußerungsgewinne gemäß § 6 Abs. 1 AStG i. V. m. § 17 EStG. Hiergegen wandte der Kläger ein, dass infolge seiner Rückkehr nach Deutschland die Besteuerung rückwirkend wieder entfallen müsse. Das Finanzamt folgte dem nicht mit der Begründung, dass der Kläger nicht bereits bei seinem Wegzug seinen Willen zur Rückkehr angezeigt habe.
Beispiel 11
A, der seit langem in Deutschland lebt, schenkt im Jahr 2019 dem B, wohnhaft in einem DBA-Staat außerhalb der EU, seinen 5%igen Anteil an einer Kapitalgesellschaft.
Die Schenkung löst die Besteuerung nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AStG 2007 aus.
Nach der Schenkung zieht B im Jahr 2021 [Alt. 2022] nach Deutschland (Lebensmittelpunkt).
Für die Frage, ob durch den Zuzug nach Deutschland im Jahr 2020 der Steueranspruch rückwirkend entfällt, ist § 6 Abs. 3 Satz 3 AStG 2007 anzuwenden. Die Schenkung wird in Nicht-EU-Fällen nicht von § 6 Abs. 3 AStG 2007 erfasst und lässt den Steuertatbestand nicht rückwirkend entfallen.
Wäre B im Beispielsfall 11 dagegen in der EU ansässig, würde der Steueranspruch nach § 6 Abs. 3 Satz 4 AStG 2007 rückwirkend entfallen.
Anders wäre Beispielsfall 11 auch dann zu beurteilen, wenn B die Anteile nicht durch Schenkung, sondern durch Erwerb von Todes wegen erworben hätte. Der Erwerb von Todes wegen wäre von § 6 Abs. 3 Satz 3 AStG 2007 erfasst. Wird im Fall des Erwerbs von Todes wegen der Rechtsnachfolger innerhalb von fünf Jahren seit Entstehung des Steueranspruchs unbeschränkt steuerpflichtig, entfällt der Steueranspruch.
Abwandlung
Zieht B erst im Jahr 2022 nach Deutschland, ist § 6 Abs. 3 Satz 5 AStG 2022 anzuwenden. Diese Regelung differenziert nicht danach, ob B die Anteile durch Schenkung oder von Todes wegen erworben hat. Da die Siebenjahresfrist erfüllt ist, entfällt in der Abwandlung der Steueranspruch rückwirkend.
Beispiel 12
X ist in Deutschland ansässig und legt GmbH-Anteile im Jahr 2015 in eine EU-Personengesellschaft (Betriebsstätte) ein und entnimmt sie im Jahr 2021 [Alt. 2022] wieder.
Rechtslage nach § 6 AStG?
Lösungsvorschlag Beispiel 12
Einlage der Anteile in ausländische Personengesellschaft, welche dem Gesellschafter eine Betriebsstätte vermittelt, ist steuerpflichtig gemäß § 6 I 2 Nr. 3 AStG 2007
Rückführung / spätere Entnahme der Anteile?
§ 6 Abs. 3 Satz 4 AStG 2007: rückwirkender Wegfall des Steueranspruchs nur bei Stundung nach Abs. 5 (Einlage in EU-Betriebsstätte). Hinweis: Die Entnahme aus einer Drittstaaten-Betriebsstätte ließ den Steueranspruch nicht rückwirkend entfallen.
Anwandlung
Für Entnahmen nach 2022 sieht § 6 Abs. 3 AStG 2022 keinen Rückwirkenden Wegfall des Steueranspruchs vor. Allerdings profitieren Altfälle von der Übergangsregelung des § 21 Abs. 2 AStG 2022. Danach ist § 6 Abs. 3 AStG in der am 31.12.2020 gültigen Fassung auf noch laufende Fristen gemäß Absatz 3 weiterhin anzuwenden. Da im Falle einer EU-Betriebsstätte gemäß § 6 Abs. 3 Satz 4 AStG 2007 eine Rückführung der Anteile zeitlich unbefristet möglich ist, beseitigt die Entnahme der Anteile im Jahr 2022 rückwirkend die Besteuerung.
Beispiel 13
Um die Wegzugsbesteuerung zu vermeiden, gründet S eine Personengesellschaft und bringt seine wesentliche Beteiligung an einer GmbH in diese Personengesellschaft ein. Was sind die Folgen, wenn es sich um
a) eine vermögensverwaltende Personengesellschaft,
b) eine gewerblich geprägte Personengesellschaft (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG),
c) eine ausländische Personengesellschaft oder
d) eine originär gewerbliche inländische Personengesellschaft handelt?
Beispiel 14a
A ist Alleingesellschafter der A-GmbH. Er bringt seine Anteile an der A-GmbH (AK 50 / gemeiner Wert 120) am 01.03.2007 in die Neu-GmbH ein und erhält hierfür Anteile an der Neu-GmbH. Die Neu-GmbH setzt die A-GmbH-Anteile mit dem Buchwert von 50 an. Am 01.04.2010 zieht A in die Schweiz. Zu diesem Zeitpunkt haben die Anteile einen gemeinen Wert von 130.
Beispiel 14b
Der Einzelunternehmer A bringt 2007 sein Unternehmen (Buchwert: 50, gemeiner Wert: 120) in die neu gegründete A-GmbH gegen Gewährung von Gesellschaftsanteilen ein. Im Jahr 2010 verlegt A seinen Wohnsitz in die Schweiz. Der gemeine Wert der Anteile beträgt nun 130.
Welche steuerlichen Folgen ergeben sich?
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