Steuerfolgen in Deutschland im Wegzugsjahr

- Veranlagung im Jahr des Wegzugs

Bis zum Veranlagungszeitraum 1995 folgte aus § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG a. F., dass für das Jahr des Wegzugs zwei Ermittlungszeiträume galten, einer bis zum Wegzug und einer für die Zeit danach. Für jeden dieser Zeiträume war gem. § 25 Abs. 2 EStG a. F. eine separate Veranlagung nach den allgemeinen Grundsätzen durchzuführen. Diese frühere Regelung führte zu einer Durchbrechung des Prinzips der Abschnittsbesteuerung und zu (ungerechtfertigten) Progressionsvorteilen hinsichtlich der inländischen Einkünfte dadurch, dass der Jahrestarif nur auf ein Teiljahreseinkommen angewendet wurde.

Durch die Jahressteuergesetze 1996 [1] und 1997 [2] wurde der Progressionsminderungseffekt beseitigt. Seitdem regeln § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG (mit Wegfall des § 25 Abs. 2 EStG) sowie § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG, dass wegzugsbedingte Progressionsvorteile vermieden werden. Vollzieht sich nun während des Kalenderjahres ein Wechsel in der Steuerpflicht, sind die während der beschränkten Steuerpflicht erzielten inländischen Einkünfte in die Veranlagung zur unbeschränkten Steuerpflicht einzubeziehen. Die Regelung stellt also klar, dass es bei einem einheitlichen Veranlagungszeitraum bleibt und auch ein einheitlicher Tarif anzuwenden ist.

Somit ist nach § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG eine einheitliche Jahresveranlagung erforderlich, bei der die Summe der Einkünfte aus sämtlichen Einkünften des Zeitraums der unbeschränkten Steuerpflicht zuzüglich der inländischen Einkünfte nach § 49 EStG ermittelt wird, die vor oder nach Bestehen der unbeschränkten Steuerpflicht im Veranlagungszeitraum erzielt wurden.

Für ausländische Einkünfte, die während der Zeit der beschränkten Steuerpflicht in demselben Kalenderjahr erzielt werden, gilt der Progressionsvorbehalt nach § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG, der zu erheblichen Mehrbelastungen führen kann. Unbeachtlich sind Steuerpflicht und tatsächliche Besteuerung im Ausland während derselben Zeit.

Eine Besonderheit besteht im Falle des Quellensteuerabzugs: Im Jahr des Wegzugs tritt für diejenigen beschränkt steuerpflichtigen Einkünfte, die dem Quellensteuerabzug unterliegen, keine Abgeltungswirkung gem. § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 EStG ein. Dies gilt auch für Kapitalgesellschaften, § 32 Abs. 2 Nr. 1 KStG.  Progressionsvorbehalt gem. §§ 32b Abs. 1 Nr. 2 und 3 EStG ist anwendbar.

- Anwendungsvoraussetzungen des Progressionsvorbehalts

Progressionsvorbehalt bei zeitweiser unbeschränkter Steuerpflicht

Nach § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG ist bei der Festsetzung der Einkommen­steuer u. a. dann ein besonderer Steuersatz (§ 32b Abs. 2 EStG) anzuwenden, wenn ein

  • zeitweise unbeschränkt Steuerpflichtiger ausländische Einkünfte bezogen hat,
  • die im Veranlagungszeitraum nicht der deutschen Einkommensteuer unterlegen haben.

Diese Regelung gilt kraft ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung „nur für Fälle der zeitweisen unbeschränkten Steuerpflicht einschließlich der in § 2 Abs. 7 Satz 3 geregelten Fälle“. Wie sich aus dem Wort „einschließlich“ ableiten lässt, erfasst sie nicht nur die in § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG geregelte Situation, in der ein Steuerpflichtiger in einem Teil des Kalenderjahres unbeschränkt steuerpflichtig ist und in einem anderen beschränkt steuerpflichtige Einkünfte i. S. d. § 49 EStG erzielt. Sie greift auch dann ein, wenn in einem Teil des Kalenderjahres unbeschränkte Steuerpflicht besteht und im anderen Teil keine in der Bundesrepublik zu besteuernden Einkünfte anfallen. [1] 

§ 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG erfasst daher zwei Fälle:

  • der Steuerpflichtige ist zeitweise unbeschränkt steuerpflichtig und im verbleibenden VZ beschränkt steuerpflichtig (§ 2 Abs. 7 Satz 3 EStG) oder
  • der Steuerpflichtige ist zeitweise unbeschränkt steuerpflichtig und im verbleibenden VZ nicht steuerpflichtig.

Progressionsvorbehalt bei unbeschränkter Steuerpflicht

Im Gegensatz zu § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG betrifft Nr. 3 Fälle, in denen der Steuerpflichtige im Inland ansässig ist, und zwar:

  • Steuerpflichtiger ist im Inland ansässig (unbeschränkt steuerpflichtig) und im Ausland beschränkt steuerpflichtig.
  • Steuerpflichtiger ist doppelt ansässig (Doppelwohnsitz; Deutschland ist DBA-Ansässigkeitsstaat nach tie-breaker-rules, Art. 4 Abs. 2 OECD-MA).
  • Nach Ansicht des BFH: Steuerpflichtiger ist doppelt ansässig (z.B. Doppelwohnsitz), wobei Ausland nach tie-breaker-rules (Art. 4 Abs. 2 OECD-MA) als Ansässigkeitsstaat gilt. [2]

Aus dieser BFH-Entscheidung (Progressionsvorbehalt, wenn unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland, aber keine DBA-Ansässigkeit in Deutschland, Art. 4 Abs. 3 OECD-MA) ergibt sich folgende Problematik: § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG setzt Einkünfte voraus, die nach DBA steuerfrei sind. Ist aber Deutschland nach Art. 4 Abs. 3 OECD-MA nicht Ansässigkeitsstaat, sondern Quellenstaat, ist er nicht zur Frei­stel­lung nach Art. 23 A OECD-MA verpflichtet. Denn eine Doppelbesteuerung zu vermeiden (Freistellung oder Anrechnung), ist immer Sache des Ansässigkeitsstaates.

Die Folgen der Entscheidung sind umstritten: Nach Wassermeyer [3] seien alle ausländischen Einkünfte in den Progressionsvorbehalt einzubeziehen. Überzeugender ist die Ansicht von Benecke/‌Schnitger, nur diejenigen ausländischen Einkünfte dem Progressionsvorbehalt zu unterwerfen, die nach den Verteilungsartikeln des jeweiligen DBA dem ausländischen Staat zugewiesen sind. [4] Nach Ansicht von Puls [5] hat der BFH die Grenzen der Auslegung überschritten.

Einschränkung durch Verfassungs- oder Europarecht?

§ 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG behandelt

  • Steuerpflichtige, die während eines gesamten VZ unbeschränkt steuerpflichtig waren, gegenüber nur zeitweise unbeschränkt Steuerpflichtigen bzw.
  • beschränkt Steuerpflichtige, die in einem Veranlagungszeitraum zeitweise unbeschränkt steuerpflichtig waren, gegenüber nur beschränkt Steuerpflichtigen 

unterschiedlich. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sieht der BFH hierin nicht. [6] Für den Vergleich eines ganzjährig unbeschränkt Steuerpflichtigen mit einem nur zeitweise unbeschränkt Steuerpflichtigen sei eine willkürliche Gleichbehandlung der ungleich gelagerten Sachverhalte nicht erkennbar. [7]  Nach Ansicht von Dißars sei die unbeschränkte Steuerpflicht strukturell so verschieden von der beschränkten Steuerpflicht, dass ein Zusammentreffen beider in einem Veranlagungszeitraum eine besondere Behandlung ermögliche. [8]

Der BFH hat entschieden, dass die Grundfreiheiten des EG-Vertrags (heute: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV) nicht die Anwendung des Progressionsvorbehalts verbiete. [9]

Fallbeispiel 2

Verhältnis von Progressionsvorbehalt zum Abkommensrecht

§ 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG bezieht ausländische Einkünfte, die nach der Zeit der unbeschränkten Steuerpflicht in Deutschland nicht steuerbar sind, über den Progressionsvorbehalt in die deutsche Besteuerung ein. Regelungsgrund ist, dass in einem Teil des Veranlagungszeitraums durch die unbeschränkte Steuerpflicht ein inländischer Anknüpfungspunkt hergestellt wurde. [12] Dies ist im Hinblick auf Regelungen in Doppelbesteuerungsabkommen problematisch, wenn der Steuerpflichtige nach dem Wegzug in einem anderen DBA-Staat ansässig ist und das jeweilige DBA eine Anwendung des Progressionsvorbehalts für ausländische Einkünfte nicht vorsieht. In solchen Fällen stellt sich die Frage, ob § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG gegen Regelungen der DBA verstößt.

Nach der alten Rechtsprechung des BFH setzte der Progressionsvorbehalt voraus, dass im DBA dessen Anwendung zugelassen ist.[13] An dieser Auffassung hält der BFH nicht länger fest.[14] Nunmehr ist § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG unabhängig davon anzuwenden, ob ein DBA ausdrücklich der Bundesrepublik als Ansässigkeits- oder Quellenstaat ein Besteuerungsrecht mit Progressionsvorbehalt einräumt. Entscheidend ist nunmehr allein, dass ein DBA der Bundesrepublik die Besteuerung von Einkünften gestattet und den Progressionsvorbehalt nicht ausschließt. Da es – soweit ersichtlich – kein DBA gibt, das den Progressionsvorbehalt ausdrücklich ausschließt, entscheidet es sich also allein nach dem deutschen innerstaatlichen Steuerrecht, ob ein Progressionsvorbehalt anzuwenden ist. Eine dem Art. 23 A Abs. 3 des OECD-MA entsprechende Regelung im DBA hat daher nur deklaratorische Bedeutung.

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