Beispiel 4
B, kanadischer Staatsbürger, wohnte 4 Jahre in Berlin, bevor er 2021 [Abwandlung 2022] wieder nach Montreal zog. Im Zeitpunkt seines Wegzugs war B an einer inländischen Kapitalgesellschaft zu 1% beteiligt. Die Beteiligung hatte er ein Jahr zuvor von seinem Onkel O geschenkt bekommen, der zwischen 1950 und 2006 in Münster lebte. Hat B den Tatbestand des § 6 I AStG verwirklicht?
Ausgangsfall: Für die Berechnung der Zeit der unbeschränkten Steuerpflicht des B im obigen Beispiel 4 ist die unbeschränkte Steuerpflicht des O gem. § 6 Abs. 2 S. 1 AStG 2007 einzubeziehen. Danach ist die 10-Jahresbedingung erfüllt, weil der Onkel mehr als 10 Jahre in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig war. Der Vermögenszuwachs in der Beteiligung des B ist somit gem. § 6 Abs. 1 AStG steuerpflichtig.
Abwandlung: B muss innerhalb der letzten 12 Jahre vor dem Wegzug mindestens 7 Jahre unbeschränkt steuerpflichtig gewesen sein, § 6 Abs. 2 Satz 2 AStG 2022. Die Voraussetzung erfüllt B persönlich nicht. Ob die unbeschränkte Steuerpflicht des O dem B zugerechnet werden darf, ist fraglich, weil O innerhalb der letzten 12 Jahre selbst nicht unbeschränkt steuerpflichtig war. M.E. scheidet eine Zurechnung in diesem Beispielsfall aus. Sind beim Steuerpflichtigen persönlich solche Zeiten der unbeschränkten Steuerpflicht, welche außerhalb des 12-Jahreszeitraums liegen, nicht tatbestandsmäßig, kann für die Zurechnung nichts anderes gelten. Zeiträume, welche bei Verwirklichung durch den Steuerpflichtigen nicht tatbestandsmäßig wären, sind dem Steuerpflichtigen nicht zurechenbar, wenn die Zeiträume durch Dritte verwirklicht werden.
Beispiel 4a (nach FG Schleswig-Holstein, Urt. V. 12.09.2019 – 4 K 113/17; BFH, Urt. v. 23.11.2022 – I R 52/19, IStR 2023 181)
K hält Aktien in Höhe von 1,3% am Grundkapital der E-AG. K schließt mit seinem Bruder einen Wertpapierdarlehensvertrag, wonach die Aktien des K auf den Bruder als Darlehensnehmer übergehen. Alle Erträgnisse aus den Aktien (zum Beispiel Dividenden, Zinszahlungen, Bezugsrechte usw.), die während der Laufzeit des Darlehens anfallen, stehen den Bruder als Darlehensnehmer zu. Das Darlehen sollte bis zum 31.12.2011 laufen und sich ohne vorherige Kündigung jeweils um sechs Monate verlängern. Als Darlehensentgelt wurden 12.000 € pro Jahr vereinbart. Nach Ablauf einer Festlaufzeit verlängert sich das Darlehen automatisch, falls es nicht vorher gekündigt wird.
Lösung FG Schleswig-Holstein ist zuzustimmen: Wird bei einem Steuerpflichtigen die unbeschränkte Steuerpflicht durch einen Wegzug ins Ausland (hier Schweiz) beendet, so kann eine Besteuerung nach § 6 AStG i.V.m. § 17 EStG im Falle einer wesentlichen Beteiligung auch dann erfolgen, wenn der Steuerpflichtige seine Anteile - welche die wesentliche Beteiligung i.S.d. § 17 EStG begründeten - kurz vor dem Wegzug im Wege eines Wertpapierdarlehens auf einen Dritten übertragen hat. Zwar erfolgt bei einem Wertpapierdarlehen grundsätzlich eine vollständige Übertragung der Anteile (ohne Aufdeckung der stillen Reserven) auf den Darlehensnehmer, sodass der Darlehensgeber für die Leihzeit grundsätzlich nicht mehr (wirtschaftlicher) Eigentümer der Anteile ist. Die stillen Reserven bleiben aber beim Darlehensgeber nach § 17 EStG verstrickt - und eine Besteuerung nach § 6 AStG i.V.m. § 17 EStG bleibt daher möglich -, weil dessen Rückgewähranspruch aus dem Darlehensvertrag als "Anwartschaft" i.S.d. § 17 Abs. Absatz 1 S. 3 EStG anzusehen ist.
Der BFH stimmt dem FG zu, dass ein Wertpapierleihgeschäft aus den vorstehenden Gründen keine Veräußerung im Sinne von § 17 EStG darstellt. Die eigentliche Streitfrage, ob es sich um eine Anwartschaft im Sinne von § 17 Abs. 1 Satz 3 EStG handelt, hat der BFH aus tatsächlichen Gründen offen gelassen, da der Vollzug der Wertpapierleihe, anders als vom FG festgestellt, nach dem Wegzug erfolgte. [11]
Abwandlung Beispiel 4
Wie wäre der Fall zu beurteilen, wenn B von seinem Onkel im Jahre 1995 einen Anteil von 15 % geschenkt bekommen hätte, B im November 1998 einen Anteil von 7 % und im Dezember 2001 weitere 7,1 % der Anteile veräußert hätte? Anmerkung: Für wesentliche Beteiligungen i. S. v. § 17 EStG gelten folgende Schwellensätze, wenn das Wirtschaftsjahr dem Kalenderjahr entspricht: bis 31.12.1998: 25 %; 01.04.1999 – 2001: 10 %; ab 2002: 1%.