Was läuft schief in Deutschland? Wo anpacken? Moderator Michael Bröcker (li.) im Gespräch mit Dr. Thomas de Maizière.

ANALYSE: DEUTSCHLAND IM WETTBEWERB

Niemand ist nicht verantwortlich

Um die Krise des Standorts Deutschland zu bewältigen, sind eine große Staatsreform sowie ein Umdenken im staatlichen Handeln nötig – vor allem aber die Lösung eines massiven gesellschaftlichen Problems. 

Dass es um den Standort Deutschland schon mal besser bestellt war, ist inzwischen jedem klar geworden, auch die politische Konstellation der Ampel-Koalition gilt bekanntlich als schwierig. Aber welche Ursachen stehen hinter Problemen wie dem oft beklagten Bürokratiedschungel oder der fehlenden Innovationsfähigkeit? 

Darüber sprachen beim Wirtschaftsforum hochkarätige Vertreter aus Politik und Wissenschaft, so Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister a.D. und ehemaliger Chef des Bundeskanzleramtes, der ehemalige Wirtschaftsweise Prof. Dr. Lars Feld oder Christoph Ahlhaus, Präsident des Mittelstandsverbands (s. Interview LINK). Hinzu kamen Stimmen aus der Praxis, etwa von Natalie Mekelburger, der Vorsitzenden der Geschäftsführung der Coroplast-Gruppe, Dr. Lars Brzoska, CEO des Interlogistikdienstleisters Jungheinrich, Andreas Voll, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung der Unternehmensgruppe fischer, und Prof. Jörg Rocholl, Professor in Sustainable Finance an der ESMT Berlin. 

Die Referenten konstatierten ein zerstörtes Vertrauen in den deutschen Staat, der sich in fast jeder Hinsicht „verheddert“ hat – von der überbordenden Dokumentationspflicht im Umweltschutz über die Überregulierung des Arbeitsrechts bis hin zur „Verkrampfung“ im Datenschutz. Was pauschal als bürokratischer Dschungel und Digitalisierungsdefizit kritisiert wird, hat seine Ursache in der sektoralen Organisation der politischen Verwaltung mit getrennten Behörden und jeweils eigener Rechtsmaterie. Ohne eine grundlegende Verwaltungsreform, ohne eigene Bundesverwaltung, die in zentralen Fragen eine verpflichtende Linie vorgibt sowie die Umsetzung von Beschlüssen erzwingt, verschlimmert jedes gut gemeinte Gesetz die Zustände weiter, und zusätzliche finanzielle Mittel etwa für die Digitalisierung seien nicht zielführend einsetzbar, so die Analyse. Es gehe nicht um diese oder jene Auflage, es gehe vielmehr um die Bedingungen staatlichen Handelns. 

Aber auch die Wirtschaft selbst steht in der Pflicht, stammt doch ein großer Teil des Bürokratiewusts von deren Selbstverwaltung, von Berufsgenossenschaften, Kammern und Gremien. Dass eine große Reform gelingen kann, dafür spricht die dramatische Lage, wie ein drastischer Vergleich verdeutlichte: Manchmal braucht es eben erst einen Herzinfarkt, um sich das Rauchen abzugewöhnen. 

Damit Deutschland in Sachen Bildung aufhole, müsse dieses Schlüsselthema zunächst auch in der öffentlichen Debatte sowie im Wahlkampf eine größere Rolle spielen. Im Zweifelsfall sei Pragmatismus gefragt: Unternehmer berichteten vom Auflegen betriebsinterner Weiterbildungsprogramme, um die Defizite bei diesem „einzigen in Deutschland nachwachsenden Rohstoff“ auszugleichen. Diese Investition lohne sich, auch wenn es sich eigentlich um eine Aufgabe des Staates handle. Auch eine engere Verzahnung von Bildungseinrichtungen einerseits und Unternehmen andererseits sei ein wichtiger Schritt. 

Willi Plattes, Fritz Esterer, Christoph Ahlhaus, Stefan Groß, Prof. Dr. Lars Feld, Sabine Christiansen (v.li.). 

Die Analyse reichte aber weit über die Politik hinaus. Wie ein roter Faden durch die Debatte zog sich die Feststellung, dass vor allem die Einstellung in der Gesellschaft der Bewältigung der Krise im Weg stehe. Zu viele hätten den Ehrgeiz verloren, die besten sein zu wollen. Erfolgreiche Start-up-Unternehmer verkauften lieber, statt in eine höhere Liga aufzusteigen. Es fehle der Mut, etwas zu wagen, es fehle an Tempo bei nötigen Transformationen. Viele Menschen, die sich an Überflussgesellschaft und beständig wachsenden Wohlstand gewöhnt hätten, verzagten angesichts der neuen Ungewissheiten, zumal bislang stets „Mutti“ mit Hilfsprogrammen eingesprungen sei. Die Menschen wollten einerseits weniger Staat, andererseits aber dessen „Sorglospaket“ nicht geschmälert wissen. 

Statt eines Wirtschaftswettbewerbs gebe es in mancher Hinsicht in Deutschland heute inzwischen einen „Schönheitswettbewerb“ um Subventionen, die mit der gebotenen Schuldenbremse nicht vereinbar seien. Und da mit diesen staatlichen Hilfen auch viel alte Industrie gefördert werde, fehle es am nötigen Druck zum Strukturwandel in Deutschland. Viel sinnvoller sei ein stärkerer Schwerpunkt bei der Innovationsförderung, um den Anschluss bei neuen Patenten nicht zu verlieren, sowie ein politischer Rahmen, der mehr Impulse setze, statt ungewünschte Optionen zu verbieten, beispielsweise durch eine CO2-Bepreisung statt eines Verbrennerverbots. 

Die Referenten appellierten angesichts einer „zu satten“ Gesellschaft, traditionelle deutsche Tugenden wie Disziplin und Fleiß mit einer neuen Offenheit für Veränderungen zu kombinieren, mehr Eigenverantwortung zu zeigen und andere für ihr Engagement nicht mit Häme zu bestrafen, wenn etwas nicht auf Anhieb klappt. Denn egal ob Politiker, Wirtschaftsboss oder einfacher Bürger – niemand sei nicht verantwortlich. 


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