GEOPOLITIK

Eine neue Ära der Polykrisen

Die Zeiten, in denen sich die internationale Politik bei der Lösung von Problemen auf einen einzelnen Konfliktherd konzentrieren konnte, sind vorbei. Was sich gerade verändert und was das für die Zukunft bedeutet.

Karl Gernandt (Kühne Holding AG, Aufsichtsrat bei Deutsche Lufthansa AG und Hapag-Lloyd AG).

Das Thema Geopolitik war einerseits Thema mehrerer Vorträge während des Wirtschaftsforums NEU DENKEN. Es sprachen unter anderen Prof. Dr. Carlo Masala, Leiter der Professur für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, und Karl Gernandt, Präsident des Verwaltungsrats der Kühne Holding AG. Die Diskussion über die veränderte geopolitische Lage kam andererseits auch in weiteren Momenten zur Sprache, bei der Debatte mit Experten zur Lage in Europa, in China oder in den USA. Während der drei intensiven Tage des Forums kristallisierten sich zentrale Erkenntnisse und Thesen heraus.

Russland führt Krieg gegen die Ukraine. Der Nahost-Konflikt eskaliert. Der Iran wartet wahrscheinlich nur auf den günstigsten Moment, um den letzten Schritt zur Produktion von Atomwaffen zu machen und sich zur Regionalmacht aufzuschwingen. Als aussichtsreicher Anwärter auf eine erneute US-Präsidentschaft schert sich Trump nur wenig um die Nato. Und Chinas Säbelrasseln gegenüber Taiwan nimmt zunehmend bedrohliche Züge an. Europäer gewinnen zunehmend das Gefühl, dass die Welt plötzlich aus den Fugen geraten ist. 

Wer aber in andere Erdteile reist und Menschen dort mit diesem Eindruck konfrontiert, wird womöglich feststellen, dass Europa mit dieser Empfindung relativ allein dasteht. Nicht, dass man in anderen Regionen das Gefühl hätte, die Welt sei in Ordnung. Vielmehr wird die permanente Bedrohung durch Krieg dort nicht als neue Entwicklung empfunden – die Welt ist dort schon lange aus den Fugen. In Europa herrschte im internationalen Vergleich eine ungewöhnlich lange und stabile Friedenszeit. 

Alles hängt zusammen

Neuartig ist hingegen, dass die verschiedenen Brennpunkte und gleichzeitig stattfindenden Konflikte in der zunehmend globalisierten Welt so miteinander verwoben sind, dass sie sich nicht einzeln betrachten oder lösen lassen. Wer den Iran an der Produktion von Atomwaffen hindern will, braucht Russland. Moskau würde dafür Zugeständnisse in der Ukraine fordern. Beim Wettlauf um den Einfluss in der Sahelzone geht es auch darum, wer dort Migration auslösen und damit Europa bedrohen kann. Im Zeitalter der Polykrisen sind Fragen wie Klimawandel, Umweltverschmutzung und Migration nicht von den überall auf der Welt stattfindenden bewaffneten Konflikten zu trennen. Wir erleben die Schattenseiten der Globalisierung. 

Im globalen Kampf um eine neue internationale Ordnung fordert eine Reihe von Staaten die bestehende Ordnung heraus. Allerdings darf dieser Zustand nicht über die eindeutig unterschiedlichen Gewichtsklassen in dieser Auseinandersetzung hinwegtäuschen. Selbst wenn viel von Multipolarität die Rede sein wird, gibt es ein bis zwei große Player – USA und zunehmend China – und eine ganze Gruppe von Akteuren in der zweiten Liga der Macht. Um es mit einer auf dem Forum genannten Metapher auszudrücken: Es gibt nur zwei Gorillas und eine ganze Reihe von 150-Kilo-Schimpansen.

Es entsteht also eine neue Form der Bipolarität – USA-China statt USA-Sowjetunion – von der einerseits noch unklar ist, wie sie genau aussehen wird, die aber andererseits vermutlich weniger stabil sein wird als die alte Konstellation der beiden Supermächte im Kalten Krieg. 

Völlig ungewiss ist zudem, welche Auswirkungen es hätte, wenn Putin in irgendeiner Form siegreich aus seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine hervorgehen sollte. Nicht nur der russische Präsident könnte sich ermutigt fühlen, zur Wiedererlangung der alten sowjetischen Größe neue Gebiete anzugreifen. Auch andere Machthaber überall auf der Welt könnten dies als Anreiz sehen, lange schwelende Grenzkonflikte nun mit Waffengewalt für sich zu entscheiden.

Prof. Dr. Carlo Masala (Universität der Bundeswehr München).

                                       

Wenn plötzlich die Nägel fehlen

Die miteinander verwobenen Krisen der zunehmend globalisierten Welt führen auch dazu, dass es fast keinen Konflikt mehr auf der Welt gibt, der sich nicht binnen kurzer Zeit auf nahezu jedes Unternehmen auswirken kann. Russland greift das Nachbarland an, und plötzlich gibt es monatelang keine Euro-Paletten mehr, weil die Nägel dafür bis Februar 2022 in einer ukrainischen Fabrik produziert wurden. Durch bewaffnete Konflikte veränderte Flugrouten können völlig unvorhergesehene Auswirkungen haben. Straßen und Eisenbahnstrecken werden zerbombt. Häfen werden vermint. Huthi-Rebellen beschießen Schiffe und zwingen Frachter zu riesigen Umwegen. 

Dabei müssen Konflikte nicht immer mit Waffengewalt ausgeführt werden. Handelskriege, Protektionismus und die Infragestellung des freien Handels irgendwo auf der Welt können in kurzer Zeit dramatische Auswirkungen an ganz anderen Orten haben. Wenn sich China entscheidet, keine Antibiotika mehr zu schicken, sterben in Europa Kinder. Die Herstellung von Computerchips hängt von Seltenen Erden aus Asien ab.

Internationale Krisen sind nicht nur etwas für interessierte Zuschauer der Tagesschau, sondern sie betreffen den Handel und damit den Alltag überall in Europa. Unternehmer müssen Geopolitik verstehen, um übersetzen zu können, wie sich ein Konflikt irgendwo auf der Welt auf die eigene Situation auswirkt. Und Geopolitik bedeutet auch, sich als internationales Unternehmen zu positionieren. Soll man Schokolade weiter nach Russland liefern?

Wettlauf im Weltraum

Der Begriff Geopolitik – von griechisch Geo = Erde – könnte bald schon zu kurz greifen. Denn die Bilder von archaisch ausgeführten Kriegen – Bomben auf Krankenhäuser – lassen leicht vergessen, dass der Wettkampf um die Frage, wer in Zukunft als Supermacht besteht, zunehmend an Orten stattfindet, über die keine Journalisten berichten: an arktischen Tiefsee-Datenkabeln, in der Umlaufbahn von Satelliten oder auf dem Mond. Der Krieg in der Ukraine wird auch entscheidend von der Frage geprägt, wer den besseren Zugang zu Satellitenkommunikation und Internetverbindung hat. 

Wer als erster Solarenergie aus dem Weltall auf der Erde nutzbar machen kann, verschafft sich einen riesigen Vorsprung gegenüber allen Mitbewerbern. In Schwerelosigkeit lassen sich Materialien produzieren, die auf der Erde nicht herstellbar sind. Die Nachricht darüber, dass Russland möglicherweise Waffen ins Weltall geschickt haben könnte, sollte also nicht so sehr überraschen. Ist Europa hier vollends aus dem Rennen?


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