Europa
Vom Ukraine-Krieg wachgerüttelt
Steht die EU an einem Scheideweg, an dem die einzig gangbare Alternative die Entwicklung zu einem Föderalstaat ist? Klare Worte auf dem Podium halfen dabei, einen Überblick zu bekommen.
Obwohl im Nachhinein viele warnende Vorzeichen zu erkennen sind, erwischte Russlands Einmarsch in die Ukraine Europa kalt. Darüber, wie sich der Kontinent nun aufstellen muss, diskutierten der langjährige Luxemburger Außenminister Jean Asselborn (zum Interview), der ehemalige slowenische Premier und spätere Präsident Borut Pahor und die Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, Gitta Connemann.
Russlands Großangriff auf die Ukraine war für Europa ein Wendepunkt, den in der Tiefe seiner Wirkung noch nicht alle Beteiligten komplett verstanden haben. Die EU war von ihrer Natur aus nicht als Militärbündnis gegründet, sondern eher dafür, um durch gemeinsame Politik und „Softpower“ künftige Kriege auf dem eigenen Territorium zu verhindern, insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich. Doch mit dem 24. Februar 2022 wurden die Außenminister der EU über Nacht zu Verteidigungsministern. Seither beschäftigt man sich prioritär mit der Frage, woher möglichst schnell und effektiv Munition, Kriegsgerät und Flugabwehr zu beschaffen sind, um die Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland zu unterstützen.
Für die EU, die sich in ihrer bisherigen Entwicklung mit schnellen Entscheidungen eher schwer getan hatte, ist das eine gewaltige Probe. Der Druck lastet auch auf dem Führungsduo Berlin-Paris. Die beiden größten EU-Staaten Deutschland und Frankreich sind zwar plötzlich mehr denn je zur Kooperation gezwungen, haben aber grundsätzlich verschiedene Einstellungen zur Sicherheitspolitik. Während die Bundesrepublik erst 1955 in die Nato aufgenommen wurde und allmählich die Bundeswehr aufbaute, hat Frankreich als Atommacht und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein ganz anderes internationales Selbstverständnis. Für die Bundesrepublik ist die Frage der Sicherheitspolitik eine fast hundertprozentige transatlantische Angelegenheit – keine Sicherheit ohne die USA –, während Frankreich stets eine viel eigenständigere und europäische Verteidigung anstrebte.
Schwierige Abstimmung im Führungsduo Berlin-Paris
Zu den Verständnisschwierigkeiten zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz trägt auch ihr unterschiedliches Amt bei. Staatspräsident Macron hat gegenüber der relativ schwachen Assemblée nationale eine ganz andere Stellung als Bundeskanzler Scholz gegenüber dem mächtigen Bundestag. Die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris verlangt ein nicht immer vorhandenes Fingerspitzengefühl. Der Regierungswechsel in Polen hat positiv dazu beigetragen, möglicherweise das Format des Weimarer Dreiecks wiederzubeleben.
Die EU ist ein oft schwer verständliches Konstrukt, in dem Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten über den Europäischen Rat an der Legislative beteiligt sind. Das häufig nötige Einstimmigkeitsprinzip wird zur Zeit vor allem durch den ungarischen Premier Viktor Orbán und dessen russlandfreundliche Politik torpediert. Ungarn stehe als Negativbeispiel dafür, wie eine Demokratie nach und nach abgebaut werden kann. Es sei allerdings nicht ausgeschlossen, dass andere Länder dem Beispiel folgen. Wahrscheinlich braucht die EU eine Umstrukturierung – zum Beispiel ein aus zwei Kammern bestehendes Parlament, in dessen Händen dann die Gesetzgebung läge.
Wie halten wir es mit den rechten Parteien?
Das Beispiel Ungarn wirft auch die kontrovers diskutierte Frage auf, ob und in welcher Form die Europäische Volkspartei (EVP) nach den Europawahlen mit den sich zu bildenden Rechtsfraktionen zusammenarbeiten könnte. Kann man dies kategorisch ausschließen? Oder muss man jeden Fall einzeln abwägen und zwischen Rechtspopulisten und Rechtsextremen unterscheiden? Unterschiedliche Auffassungen gab es darüber, wie etwa die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni zu bewerten sei. Solle man belohnen, dass sie in der Regierungsverantwortung oft eher bürgerliche Positionen einnahm? Oder gibt die aktuelle Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nicht völlig falsche Signale durch die betonte Nähe zu Meloni? Die Einigung auf ein Rechtsbündnis in den Niederlanden zeige, dass sich das Land aus der wertebasierten Europapolitik zurückziehe. Unter anderem in Italien bestehe diese Gefahr ebenfalls.
Kontrovers wurde auch über das Thema Migration diskutiert. Ist es ein Versagen der bürgerlichen Politik, wenn die EVP in ihrem Wahlprogramm für die Verschärfung der Asylpolitik eintritt und dabei auch auf das Auslagern der Asylbewerber in Ländern wie Ruanda setzt? Oder gab es schon viel früher Versäumnisse? Wäre das Nachdenken über den sogenannten Ruanda-Deal nicht nötig, wenn man die in Dublin beschlossenen Maßnahmen in der EU auch konsequent umgesetzt hätte?
Die Lage in Osteuropa
Ein Rückblick auf die Osterweiterung der EU, bei der vor 20 Jahren Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern beigetreten waren, zeigte, wie sehr sich die EU verändert hat. In Slowenien sei die Euphorie 2004 groß gewesen. Damals hatte man sehr große Erwartungen. Die noch immer vorhandene Hoffnung mische sich aber inzwischen auch mit Angst. Die EU bleibt dabei aber die beste Option und wahrscheinlich einzige Alternative. Welche Rolle Deutschland oder Frankreich für die einzelnen osteuropäischen Staaten haben, sei sehr unterschiedlich. In Slowenien verließ man sich viel stärker auf Berlin als beispielsweise in Polen, wo aufgrund der Geschichte der Blick auf Deutschland viel skeptischer ausfalle.
Auch wenn man sich innerhab der EU nicht immer einig ist, verlange die internationale Lage, den Weg in Richtung mehr europäische Einheit zu gehen. Dabei müsse man auch über einen europäischen Föderalstaat und mächtigere europäische Institutionen nachdenken, wenn man neben Staaten wie den USA, China oder Indien eine ernstzunehmende Rolle in der internationalen Politik einnehmen und die eigenen Werte verteidigen wolle. Russlands Krieg gegen die Ukraine war in dieser Hinsicht ein Gamechanger, der diese Notwendigkeit in aller Deutlichkeit gezeigt hat. Vielen ist erst durch die Notsituation klar geworden, dass man eine Reform der EU brauche. Eine Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips oder die Einführung von Banken- und Fiskalunion sind keine Tabuthemen mehr.
Die EU und China
Mit Skepsis und unterschiedlichen Meinungen wurde auf dem Podium über die für Juni geplante Friedenskonferenz in der Schweiz gesprochen. Könnte das Engagement Chinas hierbei etwas bewegen? Schließlich sei deutlich geworden, dass Putin zunehmend von China abhängig ist. Frieden sei zwar wünschenswert. Für Europa sei es aber höchst problematisch, die Ukraine dazu zu drängen, Zugeständnisse für eine Kompromisslösung zu machen. Wenn Putin am Ende des Kriegs das Gefühl habe, der Krieg habe sich gelohnt, lasse sich nur sehr schwer vorhersagen, ob, wann und wo Russland das nächste Mal angreifen werde. Georgien? Moldau? Das Baltikum?
Die EU muss sich schließlich die Frage stellen, welche Beziehungen sie zu anderen Regionen der Welt möchte. Wie positioniert sie sich zu China? Deutschland und weitere Staaten bemühten sich lange um gute Beziehungen zu Russland und stehen dafür jetzt in der Kritik. Wird man sich dieselbe Kritik in zehn Jahren wieder anhören müssen, falls China sich entschließt, in Taiwan einzumarschieren? In der Beziehung zu den USA habe man bei den TTIP-Verhandlungen viel Vertrauen verspielt. Möglicherweise droht dasselbe Szenario beim Freihandelsabkommen mit Mercosur. Europa hat vielleicht zu lange geglaubt, sich die Partner aussuchen zu können. Wenn es aber die Türen zu lange verschlossen halte, orientierten sich diese um.
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