VERTRAUENSKRISE 

Wo bleibt die Agenda 2030?

Der Pessimismus in der Bevölkerung hat einen neuen Höhepunkt erreicht, dem deutschen Staat wird in den zentralen Fragen des öffentlichen Lebens ein Versagen bescheinigt. Woran das liegt und welche Wege aus der Misere führen, darüber debattierten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft

Wolfgang Kubicki - Vizepräsident des Bundestages

Ist "Made in Germany" noch ein Brand für die Zukunft? Wie denken die Elite und die Bevölkerung über die entscheidenden Wettbewerbsfaktoren? Und wie tief ist die Vertrauenskrise in Deutschland derzeit? 

Über diese Fragen sprachen und diskutierten mit Moderatorin Sabine Christiansen Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, darunter Prof. Dr. Renate Köcher, Chefin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Wolfgang Kubicki, Vizepräsident des Deutschen Bundestags und stellvertretender FDP-Bundesvorsitzender, Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der Grünen im bayerischen Landtag per Online-Schalte sowie Julia Klöckner, ehemalige Bundesministerin und aktuelle wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Wirtschaft war bei dem Thema vertreten durch Dr. Patrick Adenauer, Bauunternehmer und Präsident des Family Business Networks (FBN) Deutschland e.V., Sarna Röser, Vorsitzende der Jungen Unternehmer, Christoph Werner, CEO der Drogerie-Kette dm, und Tobias Ragge, CEO des Touristikunternehmens HRS. 

Wie sehr die Bevölkerung, gerade aber auch die Führungsspitzen das Vertrauen in die Zukunft von Deutschland verlieren und wie rapide diese Entwicklung ist, zeigen aktuelle Umfragen. Nur 31 Prozent sind demnach noch überzeugt, dass die Bundesrepublik auf Sicht von zehn Jahren eine gute Zukunft haben wird. Die Überzeugung, dass Deutschland auch in 10 bis 15 Jahren zu den führenden Wirtschaftsnationen gehören werde, ist in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen, von 49 auf nur mehr 39 Prozent. Deutschland sei mittlerweile der kranke Mann in Europa, so der Eindruck einiger Referenten. Viele Menschen glauben, ihren Wohlstand nicht halten zu können, es mache keinen Spaß mehr, in Deutschland zu arbeiten und zu leben - beunruhigende Nachrichten, die man nicht schulterzuckend zur Kenntnis nehmen dürfe.

Zur Bestandsaufnahme gehörte auch die Feststellung, dass die Industrieproduktion in Deutschland beachtlich geschrumpft ist und nur noch rund drei Viertel des Niveaus von vor zehn Jahren entspricht. Es gibt zwar sieben Millionen Erwerbstätige mehr als vor 20 Jahren, aber kaum mehr Erwerbsstunden. Und weder 2023, noch 2024 sei mit einem großen Wachstumspotenzial zu rechnen. 

Die Analyse der beim Forum vertretenen Experten bescheinigt der deutschen Politik ein Umsetzungsproblem gerade bei gravierenden Entscheidungen - da würden Ziele formuliert, ohne dass die Bedingungen dafür oder die Folgen und Nebenfolgen ausreichend geprüft würden, gerade so, als ob die Umsetzung gar nicht Sache der Politik wäre. Hinzu kommt der Eindruck, dass der Staat von seinen Bürgern Dinge verlange, die er selbst nicht zu leisten imstande sei. Und so stoßen dann Projekte wie eine "Klimaschutzpolitik mit der Brechstange" auf Skepsis, obwohl das Ziel eigentlich von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt werde. 

Auch gerade beim Thema Einwanderung zeigt sich angesichts der Mängel bei der Steuerung dieses Phänomens der massive Vertrauensverlust, der zudem noch weiter zunehmen und rechten Gruppierungen in die Hände spielen dürfte. Schon jetzt assoziiert die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland die Zuwanderung mit Nachteilen - und das, obwohl die Bundesrepublik angesichts der schrumpfenden Zahl der Erwerbstätigen auf sie angewiesen sein wird. Die Prognose: In den kommenden 15 Jahren wird sich die Zahl der Erwerbstätigen um 4 Millionen verringern, wenn es nicht gelingt, die Entwicklung durch qualifizierte Zuwanderung, eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit sowie die Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit zu kompensieren.

Doch statt das Potenzial der Einwanderung zu nutzen, führt es in Deutschland zu einem "Überlastungssyndrom" und "dramatischen Herausforderungen". Das Versagen des Staates zeige sich hinsichtlich Unterbringung, Kita, Schule - Eltern seien nicht bereit, diese Entwicklung zulasten ihrer Kinder hinzunehmen -, aber auch bei einem generellen Kontrollverlust angesichts von mehr als 350.000 eigentlich ausreisepflichtigen Menschen, die derzeit in Deutschland lebten. Man komme nicht mehr um einen wirksamen Schutz der Außengrenzen herum - wenn nötig auch mit Zäunen, so die vorherrschende Meinung. Georgen und Moldau müssten beschleunigt zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden. Und man dürfe das Thema der Einwanderung nicht mehr den Populisten überlassen, sondern müsse die Probleme offen ansprechen. Politische Debatten dürften nicht allein moralisch, sondern müssten mit handfesten Argumenten geführt werden. 

Von links: Tobias Ragge - CEO HRS Group, Julia Klöckner - MdB, Bundesministerin a.D. und wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sarna Röser - Vorsitzende der Jungen Unternehmer und Christoph Werner - Geschäftsführer dm-drogerie markt

Von links: Tobias Ragge - CEO HRS Group und Julia Klöckner - MdB, Bundesministerin a.D. und wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion


Prekär: Pessimismus und Vertrauensverlust zeigen sich gerade bei den Themen, die in die staatliche Verantwortung fallen - vom Pflegenotstand und Fachkräftemangel über Bundeswehr und Nahverkehr bis hin zu Verwaltung und Digitalisierung. So hat rund die Hälfte der Bevölkerung laut den Umfragen das Gefühl, dass vieles in Deutschland nicht mehr richtig funktioniere und dass es mit dem Land bergab gehe - dem Staat wird eine Leistungsschwäche diagnostiziert. Beispielsweise glauben nur noch 28 Prozent, dass der Rückstand bei der Digitalisierung sowie der Modernisierung der Verwaltung überhaupt noch aufzuholen sei. Trotz aller Wahlversprechen gebe es etwa keinerlei Beschleunigung von Behördenvorgängen wie beispielsweise Genehmigungsverfahren. Zudem stelle man fest, dass Politiker weniger auf Experten hörten und stattdessen Posten mit parteiaffinen Personen besetzten. 

Was also tun? Die Referenten kamen zu dem Schluss, dass die Stärkung der Leistungsfähigkeit des Staates angesichts viel zu lange verschlafener Reformen ein enormer Kraftakt ist, der nicht ideologisch, sondern pragmatisch angegangen werden muss, so wie es auch ein Unternehmer tun würde.  

Dieser Pragmatismus sei generell auch im Miteinander der Regierungsparteien in der Ampel-Koalition gefragt, die aufgrund ihres unterschiedlichen Staatsverständnisses - wie sehr darf und soll in die private Lebensführung eingegriffen werden? - vor schwierigen Kompromissen stehen. Insbesondere sind die Koalitionäre gut beraten, keine Ultimaten zu stellen und so eine unnötige Eskalation zu riskieren. Nicht jede Sachfrage dürfe zur Machtfrage eskalieren. 

Trotz pessimistischer Analysen wurde auch der Appell laut, nicht absichtlich Angst zu schüren, den Hassern und Hetzern nicht das Feld zu überlassen sowie stattdessen positive Signale auszusenden, frei nach dem Motto: "Neu denken statt schlecht reden". So sei man etwa trotz der Sorgen um die Erdgasversorgung sehr gut durch den Winter gekommen. Und auch bei der jetzigen Debatte um das Heizgesetz müsse betont werden, dass niemand seine alte Heizung abschalten oder ausbauen müsse. 

Neben den viel gescholtenen Politikern seien darüber hinaus auch Unternehmer und Bürger in der Pflicht, wie die Vertreter der Parteien betonten. Wenn Verunsicherung um sich greife und die Menschen in alte ideologische Muster verfielen, seien Wirtschaftsvertreter gefragt, auch in der öffentlichen Debatte Flagge für die soziale Marktwirtschaft zu zeigen.

Andererseits gehöre zu einer funktionierenden Verwaltung auch, dass die Bürger in Zukunft bereit sein müssten, dem Staat Zugriff auf bestimmte persönliche Daten einzuräumen, die sie ohnehin "jeder Partner-App" ohne Bedenken zur Verfügung stellten. Nur so könnten angesichts geltender Datenschutzrichtlinien bestehende bürokratische Hürden in Form von mehrfach verlangten Formularen abgebaut werden. 

Vor allem aber benötige die Gesamtgesellschaft ein gemeinsames Projekt, um nicht im Klein-klein des politischen Alltags die Perspektive zu verlieren. Verwiesen wurde auf die frühe Bundesrepublik mit seiner Konstanten eines Projekts der Wiedervereinigung am Horizont. Heute fehle eine solche Perspektive, wenn man so wolle eine "Agenda 2030", die Lust aufs Anpacken mache und Innovation statt Ideologie in den Vordergrund stelle. 


Von links: Sarna Röser - Vorsitzende der Jungen Unternehmer und Christoph Werner - Geschäftsführer dm-drogerie markt



Die Gesellschaft benötigt ein gemeinsames Projekt, um nicht im Klein-klein des politischen Alltags die Perspektive zu verlieren


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