Themenblock II
Wohlstand, Energie,
Nahrungsmittelsicherheit und Globalisierung
Wohlstand
Neu erwirtschaften
Wie lässt sich der lieb gewonnene Lebensstandard über die Zeitenwende retten?
Referent Bundesfinanzminister Christian Lindner
Inwieweit bedroht die „Zeitenwende“ – verstanden im weiteren Sinne großer Veränderungen in vielen Gesellschaftsbereichen – den Wohlstand in Deutschland und Europa? Wie müssen die Politik und die Wirtschaft auf die Herausforderungen reagieren, die durch die sich überlagernden Krisen Klimawandel, Pandemie, Krieg und Überalterung der Gesellschaft auf uns zukommen? Ist die gern zitierte Weisheit, dass in jeder Krise eine Chance steckt, in diesen Fällen nur eine Plattitüde oder ist Europa tatsächlich gut aufgestellt, um gestärkt aus dem Umbruch hervorzugehen? Und ganz konkret: Sind zum Meistern der Herausforderungen neue Steuern und Abgaben notwendig oder stehen diese einem Aufschwung im Weg?
Diese teilweise bangen und kontrovers diskutierten Fragen durchzogen die Gespräche im Wirtschaftsforum Neu Denken wie ein roter Faden. Neben anderen beteiligten sich an den Diskussionen folgende prominente Teilnehmer: Bundefinanzminister Christian Lindner (FDP, per Video zugeschaltet), SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil (per Video zugeschaltet), Marcel Fratzscher (Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung), Christian Dürr (Vorsitzender der FDP-Fraktion im Bundestag) sowie Martin Lück (Chefstratege des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock).
Der Begriff „Zeitenwende“ ist – darin herrschte wohl Einigkeit – viel weiter zu verstehen als nur angewandt auf die neue militärische Verantwortung der Bundesrepublik. Zeitenwende, das bedeute auch, dass viele Dinge nicht mehr als Selbstverständlichkeit betrachtet werden können. Der relative Wohlstand in der Bundesrepublik ist nicht von Gottes Gnaden, er muss ständig neu erwirtschaftet werden. Für manche Zuhörer im Forum überraschend: Einige Vertreter von Unternehmen und Institutionen, die sicherlich als Verfechter des Kapitalismus gelten, betonten dies- bezüglich vor allem die sozialen Nuancen innerhalb der unterschiedlichen Modelle der Marktwirtschaft. Der russische Philosoph Pjotr Alexejewitsch Kropotkin – so hieß es auf dem Podium – habe recht gehabt, als er den reinen Darwinismus (das stärkere Individuum siegt im Überlebenskampf) um die solidarische Komponente erweiterte Gesellschaften, in denen sich die Menschen untereinander unterstützen, haben einen Vorteil). Oder anders ausgedrückt: Die in Europa und insbesondere in Deutschland umgesetzte Form der sozialen Marktwirtschaft hat in Krisenzeiten durchaus Vorteile gegenüber einem stärker auf die Konkurrenz der Individuen ausgerichteten Gesellschaft. Ist das eine weitere „Zeitenwende“, wenn Kapitalismus-Verfechter vor einer zu großen sozialen Ungleichheit warnen? Vielleicht.
Doch wie setzt man die Erkenntnis einer notwendigen gesellschaftlichen Solidarität in die Praxis einer Bundeshaushaltsdebatte um? Trotz aller Einigkeit in Grundfragen wurden auf der Tagung auch die unterschiedlich gefärbten Antworten einer Ampel-Regierungskoalition deutlich. Bürger, denen Sprit, Heizkosten und Lebensmittel zu teuer werden, müssen entlastet werden. Und diese Entlastungen müssten tatsächlich bei den Konsumenten ankommen (und nicht etwa in den Taschen der Mineralölkonzerne landen). Dazu müsse man sich auch überlegen, wer in der aktuellen Lage Übergewinne erwirtschafte, hieß es auf der einen Seite. Im Steuergesetz gebe es aber nun mal nur Gewinne und keine Übergewinne. Unternehmer brauchen Rechtssicherheit. Und wer Risiken auf sich nehme, um Lösungen zu finden, müsse am Ende auch dafür belohnt und nicht übermäßig zur Kasse geben werden, hieß es auf der anderen Seite. Schuldenbremse hin oder her – manchmal müsse man einfach Geld in die Hand nehmen, um die Weltordnung zu prägen. Das werde von Deutschland in seiner neuen internationalen Führungsrolle auch verlangt, hörte man die einen sagen – an der Steuerschraube dürfe keinesfalls gedreht werden, erklärten die anderen. Am Ende werde man innerhalb der Koalition eine Lösung finden.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (links), diskutierte mit Christian Dürr, Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag.
Zeitenwende, das bedeute auch, dass viele Dinge nicht mehr als
Selbstverständlichkeit betrachtet werden können.
Abseits der tagesaktuellen parteipolitischen Streitfragen gab es aber auch grundsätzliche Debatten darüber, wie man den lange Zeit für selbstverständlich gehaltenen Wohlstand in der Bundesrepublik auch über die Zeitenwende hinaus sichern kann. Dazu, so eine Überlegung, müsse Deutschland ein modernes Einwanderungsland werden. Der Arbeits- markt müsse sich vor allem gut ausgebildeten und arbeits- willigen Menschen öffnen. Die Regierung habe dabei die Aufgabe, bürokratische Hürden zu schleifen und Verträge mit den Herkunftsländern zu schließen – auch damit Personen, die letztlich keinen Erfolg bei der Arbeitssuche in Deutschland haben, wieder ausgewiesen werden können.
Die Regierung habe außerdem die Aufgabe, Digitalisierung und Entbürokratisierung bei Genehmigungsverfahren umzusetzen. Die Zeitenwende habe gezeigt, dass man durchaus überlegt, und dennoch schnell und unbürokratisch entscheiden kann. An diese Blaupause müsse man anknüpfen, um Investitionen im Land anzukurbeln, anstatt sich hauptsächlich als Bedenkenträger zu verstehen.
Aus liberaler Sicht sei es zudem notwendig, dass sich der Staat in Bezug auf die Wirtschaft auf seine Kernaufgabe zurückbesinne. So sei es wahrscheinlich ein Fehler, die Klimawende durch den Verbot von Verbrennungsmotoren anzuschieben. Reiche es nicht, die Klimaneutralität als Rahmen vorzuschreiben? Man dürfe sich nicht der Option berauben, synthetisch hergestellte und klimaneutrale Kraftstoffe aus anderen Ländern zu importieren.
Die größte Wohlstandsherausforderung für die Bundesrepublik sei jedoch der demographische Wandel und die damit verbundene Überalterung der Gesellschaft. Es bringe nichts, sich vor die Wähler zu stellen und zu versprechen, die Renten seien sicher. Man müsse – so die liberale Sichtweise auf das Problem – wieder lernen, mit dem Geld hauszuhalten, das einem zur Verfügung stehe. Den Wohlstand könne man nicht erhalten, indem man ständig über die vermeintlich gerechtere Aufteilung des Kuchens spreche. Der Kuchen müsse vor allem jeden Tag neu gebacken werden. Und er sollte dabei doch möglichst wachsen und nicht schrumpfen.
Im Gespräch: Dr. Markus Krebber, Vorstandsvorsitzender der RWE AG (links), und Roland Harings, Vorstandsvorsitzender des Metallproduzenten Aurubis.
Energie
„Die Transformation synchronisieren“
Vertreter aus Energiewirtschaft und Industrie zeigen auf, wie die Energiewende gelingen kann. Das heißt konkret: langfristig planen, ehrlich diskutieren und pragmatisch loslegen
Hinsichtlich der kurzfristigen Schritte im Umgang mit Russland wurde zum einen darüber diskutiert, in- wieweit Atomkraftwerke überhaupt als Interimslösung dienen könnten, wie von Politikern vorgeschlagen. Dazu wurde auch eine Stellungnahme von Astrid Hamker ein- gespielt, der Präsidentin des Wirtschaftsrats der CDU. Wirtschaftsvertreter wiesen allerdings auch auf die hohen Hürden eines solchen Vorgehens hin. Zum anderen spielte in der Debatte auch die Frage eine Rolle, an welche Bedingungen man das mittel- und langfristige Verhältnis zu Russland knüpfen werde.
Für die langfristige Energiewende wünschen sich die Wirtschaftsvertreter ein agiles Vorgehen sowie eine ehrliche Debatte, die aufzeige, wie man die neuen Technologien möglichst schnell hochfahre. Dabei könne das LNG-Beschleunigungsgesetz als Blaupause dienen. So wie die Politik unter dem Druck der aktuellen Lage Vorgänge beschleunige, um Flüssiggas importieren zu können, müsse sie auch bei der Energiewende agieren. Mehr Offenheit wünschen sich die Wirtschaftsvertreter insbesondere bei der Frage, an welchen Standorten die nötige technische Infrastruktur entstehen kann, also zum Beispiel Wasserstoff betriebene Gaskraftwerke, Hydrolyse- oder Windkraftanlagen, die Haushalte und Industrie versorgen. In dieser Debatte spielte auch die Dauer der Gerichtsverfahren eine Rolle, die um den Bau solcher Anlagen ausgetragen werden.
In diesem Zusammenhang ging es auch um die benötigte Planungssicherheit, damit Investitionen in die Infrastruktur über viele Jahrzehnte amortisiert werden können. Wenn etwa eine Industrie andernorts stärker von fossilen Energien abhänge, sei es auch aus klimapolitischen Gründen sinnvoll, diese in Europa zu halten.
Mehr Offenheit wünschen sich die Wirtschaftsvertreter insbesondere bei der Frage, an welchen Standorten die nötige technische Infrastruktur entstehen kann, also etwa wasserstoffbetriebene Gas-Kraftwerke, Hydrolyse- oder Windkraftanlagen.
Wichtig sind für die Industrie des Weiteren wettbewerbsfähige Strompreise, zum anderen aber auch eine kontinuierliche Grundlast, also die Garantie, dass auch dann die Energieversorgung gesichert ist, wenn die Sonne gerade nicht scheint und der Wind nicht weht. Deswegen sei es wichtig, technologieoffen und pragmatisch vorzugehen, um die „Transformation zu synchronisieren“. Man brauche einen langfristigen Plan. Warum also nicht neue Anlagen vorübergehend mit Erdgas und anderen Energieformen betreiben, die klimafreundlicher seien als Kohle, und dann schließlich mit grünem Wasserstoff?
Das Motto: Hauptsache, wir fangen endlich an, und es wird nicht zu kompliziert. Die Welt verändere sich schnell, da müsse man ohnehin agil bleiben und nach- justieren. Wenn man so vorgehe, dann sei die Energie- wende auch kein „Hexenwerk“.
Nahrungsmittelsicherheit
Herausforderung Lebensmittel
Auf dramatische Weise stellen Klimawandel und Krieg die Ernährung der Weltbevölkerung infrage. Arme und reiche Länder sind davon unterschiedlich stark betroffen. Der Verantwortung kann sich indes niemand entziehen.
Der weltweite Hunger wurde in den vergangenen Jahren durch mehrere Krisen aus der medialen Wahrnehmung verdrängt. Dabei hat sich die Lage verschlechtert. Wachsende Weltbevölkerung und durch Klimawandel bedingte Ernteausfälle und Migration vergrößern die Not. Etwa jeder zehnte Bewohner der Erde, so hieß es auf dem Forum, gehe abends hungrig zu Bett. 45 Millionen Menschen droht derzeit gar der Hungertod. Durch den Krieg in der Ukraine, so hatte zuvor der Vorsitzende des deutschen Unicef-Komitees Georg Graf Waldersee ausgeführt, werden zusätzlich Millionen Menschen vertrieben. Eine ganze Generation junger Menschen ist traumatisiert. Hunger lasse sich durch Lebensmittelhilfen stillen, die tiefen seelischen Wunden heilen wesentlich schwieriger.
In Bezug auf Lebensmittelsicherheit und Gesundheitsversorgung wird dieser Krieg aber noch viel größere Schockwellen verursachen, wurde bei einer weiteren Debatte auf dem Wirtschaftsforum deutlich. Ein riesiger Anteil der weltweit konsumierten Kalorien – auf dem Podium wurde die Zahl von zehn Prozent genannt – stammte unter normalen Bedingungen von der Produk- tion in der Ukraine. Der Krieg verwüste dort nicht nur Anbauflächen. Durch die russische Blockade der Schwarzmeer-Häfen und verminte Wasserwege werde ein großer Teil der ukrainischen Getreideproduktion nicht ausgeführt.
Der russische Ausfuhr Stopp von Düngemitteln und die explodierenden Energiepreise feuern die Preissteigerung bei Grundnahrungsmitteln zusätzlich an. Es droht eine globale Hungerkatastrophe. Auch in Industrieländern, in denen die Verdoppelung von Mehlpreisen nicht zum Verhungern führt, kann die Inflation die Stabilität der Gesellschaft erschüttern. Der Konsum verlagere sich bereits weg von hochwertigen Produkten hin zum verstärkten Einkaufen von Sonderangeboten.
Angesichts dieser Problematik wurde die Gesprächsrunde über die globalen Auswirkungen des Krieges im Bereich Lebensmittelsicherheit und Gesundheitsversorgung mit großer Spannung erwartet. An der Diskussion maßgeblich beteiligt waren:
- Werner Baumann - CEO Bayer AG
- Marc-Aurel Boersch - Vorstandsvorsitzender Nestlé Deutschland
- Stefan Engelke - Geschäftsführer Mühle Rüningen
- Gerrit Steen - CFO Helios Health
Digital zugeschaltet berichtete Lionel Souque - CEO der Rewe Group, über die Auswirkungen auf die internationalen Lieferketten und die damit verbundenen Preissteigerungen in den Supermärkten.
Auch die Hersteller und Exporteure von Grundnahrungsmitteln, Babymilch oder Medikamenten stehen teilweise öffentlich unter Druck, sich am Handelsboykott gegen Russland zu beteiligen. In internationalen Konzernen fordern mitunter die ukraini- schen Mitarbeiter, sämtliche Beziehungen zu Russland einzustellen. Ist es jedoch ethisch zu verantworten, kranken Menschen die Versorgung mit Medikamenten zu versagen, indem man die Exporte nach Russland aussetzt? Dieselbe Frage stellt sich für Saatgut und Pflanzenschutzmittel: Soll man die Katastrophe zusätzlich anheizen, indem man Samen zurückhält, die für den Anbau in Russland bestimmt sind? Die Diskussionen dazu verlaufen – auch innerhalb der Konzerne – sehr emotional, und nicht immer gebe es ein Richtig und ein Falsch. Wichtig sei es, zu einer auf Werte basierenden Entscheidung zu kommen, die sich klar kommunizieren lässt, selbst wenn sie nicht allen gefalle.
Werner Baumann, CEO von Bayer, im Gespräch mit Sabine Christiansen.
Die Export-Beschränkungen sind politischen Ursprungs und müssen politisch gelöst werden. Eine wichtige Rolle spiele dabei die Öffnung der Schwarzmeer-Häfen. Aus Sicht der Konzerne ist klar, dass sich der globale Hunger eher verstärkt, wenn die internationalen Handelsbeziehungen gestört werden. Es brauche mehr und nicht weniger globale Koordination. Die Welt könne es sich nicht leisten, Wertschöpfungs- potenziale zu verschwenden oder aufgrund protektionistischer Entscheidungen doppelt aufzubauen. Desintegration sei keine Alternative.
Bei begrenzter Agrarfläche und wachsendem Bedarf müsse man den Ertrag pro Fläche erhöhen. Innovation spiele dabei eine große Rolle. So sei man womöglich in der Lage, Nutzpflanzen zu schaffen, die selbst in der Lage seien, Stickstoff anzureichern, und so weniger Düngemittel brauchen. Bio-Engineering biete somit Möglichkeiten, sich aus der Abhängigkeit von Düngemittelimporten aus autokratischen Staaten zu befreien. Allerdings müsste sich Brüssel dazu den innovativen Ansätzen auch öffnen. Großbritannien könnte auf diesem Gebiet – durch den Brexit befreit von den restriktiven Vorgaben der EU – vorpreschen.
Die aus dem Krieg erwachsenen dramatischen Folgen sind möglicherweise nur eine leichte Vorahnung auf das, was auf der Weltbevölkerung blühe, wenn sie den Klimawandel nicht in den Griff bekomme. Ein riesiger Anteil, rund ein Viertel, der Treibhausgase entstünden bei der Produktion von Nahrung. Auch hier komme dem Thema Innovation eine entscheidende Bedeutung zu. Wie kann man Milch klimaneutral produzieren? Insgesamt ist die Produktion tierischer Eiweiße wesentlich aufwendiger als die Produktion von pflanzlichen Nahrungsmitteln. 50 Prozent der Agrarprodukte werden zu Tierfutter verarbeitet. Die Menschheit müsste rund 80 Prozent weniger Fleisch essen. Auf Pflanzenbasis hergestellte Burger seien dem konventionellen Rinderhack inzwischen zum Verwechseln ähnlich, bei 90 Prozent weniger CO2-Ausstoß. Dasselbe gelte für pflanzlich hergestellten Thunfisch.
Werner Baumann, CEO von Bayer, Gerrit Steen (Helios Health) und Stefan Engelke (Mühle Rüningen, v.li.).
Thema: Globalisierung
„Nicht weniger, sondern eine klügere Globalisierung“
Probleme in den Lieferketten und sanktionierte Handelspartner: Wie die Zeitenwende in der Weltwirtschaft gemeistert werden kann.
Was sich schon mit der Finanzkrise von 2008 zeigte, führte allerspätestens der Krieg in der Ukraine vor Augen: Deutschland und Europa haben sich in eine wirtschaftliche und damit auch politische Abhängigkeit von Russland und auch Chinabegeben. Die Lieferschwierigkeiten durch die Verwerfungen der Corona-Krise schütteln zudem seit zwei Jahren die weltweiten Lieferketten durcheinander. Die Globalisierung wird deswegen in der öffentlichen Debatte zunehmend infrage gestellt. Eine Zeitenwende in der Weltwirtschaft – wie lassen sich die Herausforderungen meistern?
Das Thema der Globalisierung durchzog die Tagung denn auch wie ein roter Faden, schwerpunktmäßig beschäftigten sich mit ihm Alexander Birken, Vorstandsvorsitzender der Otto Group, Karl Gernandt, Executive Chairman der Kühne Holding AG, sowie Dr. Karsten Wildberger, Vorstandsvorsitzender des Handelskonzerns Ceconomy (Mediamarkt, Saturn) im Gespräch mit Sabine Christiansen (TV 21, Berlin).
Die Grundzüge der Debatte um die Zukunft der Globalisierung fasste aber zunächst Professor Marcel Fratzscher zusammen, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. „Wir müssen die Globalisierung neu denken“, so der Wissenschaftler, der drei Positionen unterschied. Da wäre die Forderung nach einer Art Deglobalisierung oder reshoring: Produktion und Lieferketten wieder nach Hause bringen, Souveränität zurückzugewinnen. „Meine große Sorge ist, dass dies eine Illusion bleiben wird“, so Fratzscher, „denn dieser Weg ist weder wünschenswert, noch machbar. “Gerade aus deutscher Sicht sei die Globalisierung das Rückgrat des Wirtschaftsmodells der vergangenen 70 Jahre, das einen enormen Wohlstand geschaffen hat. Die Schwierigkeit, die Globalisierung zurückzudrehen, zeige der Brexit: Man gewinne nicht Souveränität, sondern verliere an Einfluss auf die Märkte und die Arbeitsplätze. Eine zweite Antwort lautet friendshoring: sich aus den Lieferketten mit Ländern wie Russland oder China herauslösen und solche stattdessen in befreundeten Nationen aufbauen. Zwar sei es richtig, sich aus Symmetrien zu befreien und auf Augenhöhe zu agieren. Doch sei zu befürchten, dass in einer immer stärker bipolaren Welt die wirtschaftliche und politische Konfrontation weiter zunehme.
Alexander Birken (CEO Otto Group Holding), Karsten Wildberger (CEO Ceconomy) und Karl Gernandt (Executive Chairman Kühne Holding, v.li.).
Bleibt also ein dritter Weg – und der setzt auf mehr Resilienz. Die Idee vom „Handel durch Wandel“ sei eben nicht gescheitert. „Wir brauchen nicht weniger, sondern eine klügere und eine sozialere Globalisierung“, so Fratzscher: Lieferketten müssen darauf ausgerichtet sein, in Krisenzeiten großen Schocks widerstehen zu können. Statt einem Standort für ein Produkt sind mehrere, global diversifizierte Standbeine nötig sowie Redundanzen, um in Krisenzeiten schnellhandeln zu können.
Diese wissenschaftliche Analyse unterfütterten die Vertreter der Wirtschaft mit Argumenten aus der Praxis. Die derzeitigen Schwierigkeiten seien weniger ein Zeichen von Schwäche der Globalisierung, als vielmehr dafür, dass Globalisierung nicht mehr wegzudenken sei. Und die Probleme seien auch nicht ganz neu – auch früher schon seien „Lieferketten“ gestört worden, denke man an die einst von Napoleon verfügte Kontinentalsperre. Solange es Unterschiede bei Kaufkraft, Produktionskosten und Kaufpräferenzen gibt, werde eine Ware immer von A nach B transportiert werden. Globalisierung finde jeden Tag auf jedem Marktplatzstatt und werde durch das Bevölkerungswachstum beispielsweise in Regionen wie Afrika weiter an Bedeutung gewinnen.
Deswegen erlebe man derzeit auch keinen Fehler im System, sondern im Management. Die Selbstkritik der Wirtschaftsvertreter lautet: Es wurde zu sehr auf einzelne Länder wie beispielsweise China gesetzt, statt das Potenzial in anderen Regionen wie etwa Afrika oder Lateinamerika zu nutzen.
Was ist also kurzfristig zu tun, wie kann man den Problemen der höheren Kosten und fehlender Verfügbarkeit begegnen? Das System müsse so umgebaut werden, dass nicht bereits ein querstehendes Schiff im Suez-Kanal ausreiche, um ein globales Problem auszulösen. Nötig seien mehr Ausgewogenheit und weniger Risiko. Lieferkettenbräuchten auch mehr Transparenz, um widerstandsfähiger zu werden: Firmen müssten sich mit allen Zulieferern und Geschäftspartnern über die gesamte Lieferkette verbinden und Daten austauschen. Und auch mehr Flexibilität sei gefragt: Unternehmen müssten lernen, Alternativprodukte anzubieten. Langfristig spiele außerdem das Thema Innovation eine wichtige Rolle: Viele der Importe gerade aus Asien seien sehr günstige, massenfähige Produkte mit ausgefeilter, komplexer Technologie – Produkte, die zu einem beträchtlichen Teil gar nicht mehr in Europa produziert werden. Die Vertreter der Wirtschaft forderten deswegen eine Innovationsstrategie mit langem Atem. Man müsse Start-ups fördern, genauso wie die Innovationsfähigkeit des Mittelstands oder die Zusammenarbeit mit den Universitäten und Forschungseinrichtungen.
Auch unter Umweltaspekten dürfe die Globalisierung nicht verteufelt werden. Lokal kaufen sei eben nicht automatisch das Richtige. Manche Produkte, die weit entfernt produziert werden, hätten wegen der dort besseren Produktionsbedingungen einen geringeren ökologischen Fußabdruck als lokale Produkte – von bestimmten Industriebranchen bis hin zu gastronomischen Produkten wie Wein aus Chile. Nicht zuletzt die Klimakrise sei ein Beispiel, dass nationale Scheuklappen kein guter Rat seien – globale Probleme ließen sich nun mal nur global lösen.
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