Themenblock III

Innovation, Digitalisierung und Mittelstand


Innovation

Aufholjagd in der Start-up-Szene

Hat Deutschland die Zukunft schon verpasst oder müssen wir einfach richtig Gas geben? Woran Innovation bislang scheitert und wie sie besser gelingen kann

Es diskutierten (v. li.): Deepa Gautam Nigge (SAP), Miriam Wolfarth (Fintechs Ratepay), Conny Boersch (Mountain Partners, Conny & Co.).

Schuhe im Internet kaufen? Online bezahlen? Dinge, die heute selbstverständlich sind, waren noch vor Kurzem innovativ, und viele dieser Geschäftsideen gehen auf Startups zurück. Dass Deutschland allerdings zu den Schlusslichtern in Sachen Unternehmensgründungen gehört, war das gemeinsame Fazit einer Diskussion zumThema Innovation. Initiativen wie die UnternehmerTUM, Europas größtes Start-up-Zentrum in München, erscheinen als Ausnahme in einem Land, in dem es nach wie vor zu viele Hemmnisse für die Umsetzung neuer Ideen gibt. Diesen Eindruck vermittelten der Start-up-Investor Conny Boersch, Deepa Gautam Nigge, Innovationsexpertin beim Softwarekonzern SAP, Miriam Wohlfarth, Gründerin des Zahlungsanbieters Fintechs Ratepay, sowie Daniel Metzler, CEO der Isar Aerospace Technologies GmbH, im Gespräch mit Moderatorin Sabine Christiansen. Die Rednerinnen und Redner zeigten aber nicht nur die Missstände auf, sondern auch Strategien für mehr Innovation. 

Die Rahmenbedingungen: eine sich schneller als je zuvor wandelnde Wirtschaft. Veränderte Kundenerwartungen, neue Geschäfts- oder Preismodelle, der Einsatz von künstlicher Intelligenz – um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen sich Unternehmen ständig weiterentwickeln. Dass andere das mitunter besser können, zeige der Umstand, dass Deutschland kaum mehr vertreten sei auf den vorderen Plätzen der heute weltweit wichtigsten Unternehmen, so ein Fazit: Allein die Tech-Konzerne Apple, Microsoft und Alphabet haben 2021 ihren Börsenwert um 2,2 Billionen Euro erhöht – das ist mehr, als alle DAX-Konzerne zusammen wert sind.

Woran scheitert Innovation in Deutschland? Nicht zuletzt an Mentalitätsproblemen, beklagten die Referentinnen und Referenten. Investitionen sollen nach Meinung vieler Deutscher sicher sein und sich schnell lohnen. Investitionen in Start-ups aber sind von Natur aus unsicher und bringen nur auf lange Zeit Rendite. Aber die Zeiten, in denen alles sicher ist, seien nun einmal vorbei. Und wer nicht über seinen Tellerrand hinausschaue und keine Wetten eingehe – so wie in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren zu beobachten – verpasse auf lange Sicht die Zukunft. Es fehle am Unternehmergeist, auch deshalb, weil Schule und Universität ihn nicht ausreichend weckten undTalente nicht genügend förderten. 

In Deutschland werde „Unfassbares“ produziert, doch das Meiste davon 

lande in „Schränken oder Schubladen“ von Professoren.

Und auch auf Seiten der Finanzierung fehle es oft an Mut, mitunter aber auch an Kapital, um in größere Projekte zu investieren. In Europa vermisse man Milliardäre, die solche Programme aus eigener Tasche zahlten, so die Einschätzung der Rednerinnen und Redner – oder beispielsweise auch reiche Erben von Mittelständlern, die das Risiko nicht scheuten. 

Die Referentinnen und Referenten diagnostizierten zudem eine Lücke zwischen der Grundlagenforschung einerseits und der marktwirtschaftlichen Entwicklung andererseits. In Deutschland werde „Unfassbares“ produziert, doch meist lande es in „Schränken oder Schubladen“ von Professoren. Das Problem sei nicht, dass mehr Grundlagenforschung betrieben werden müsse, sondern dass das, was sich innovative Talente ausdenken, auch an den Markt gebracht und erprobt werde. 

Hinzu komme, dass es in der Politik trotz der Sonntagsreden zum Thema Innovation an echtem Interesse für die Start-ups fehle. Das zeige sich etwa schon daran, dass bei Delegationsreisen in der Regel gar kein Start-up-Unternehmer dabei sei – womöglich deshalb, weil man sich mit einem solchen mangels Bekanntheit nicht schmücken könne. Darüber hinaus fehle es der Gründerszene aber auch an Fürsprechern, die sich im Politikbetrieb gegen die übermächtige Lobby der alteingesessenen Konzerne durchsetzen könnten. 

Hat Deutschland die Zukunft also schon verpasst? Oder müssen wir jetzt einfach mal richtig Gas geben? Auch wenn bei dieser Frage keine Einigkeit bei den Referentinnen und Referenten herrschte, gingen ihre Vorschläge für mehr Innovation in dieselbe Richtung. 

Da ist zum einen die Haltung der Start-up-Gründer selbst. Sie sollten durchaus ein bisschen naiv sein, träumen können und keine Angst vor Fehlern haben. Innovation sei nun mal ein beständiger Prozess, bei dem man immer wieder dazu lerne. Deswegen dürfe man auch keine Scheu haben, Projekte zu präsentieren, die noch nicht wirklich fertig seien. Wichtig sei vielmehr, beständig an der Verbesserung zu arbeiten. 

Auch wenn das ursprünglich angestrebte Ziel nicht erreicht werde, zeige die Erfahrung, dass sich Innovationen quasi als Nebenprodukt ergeben, frei nach dem Motto: „Irgendetwas, was wir starten, wird schon fliegen!“

In diesem Prozess müssten junge Talente an die Hand genommen werden. Schon die Schule müsse den Boden für eine Kultur des Unternehmertums bereiten, während die Universität die Talente auf einem Teil ihres Weges begleiten sowie auch die Vernetzung untereinander und mit der Wirtschaft erleichtern müsse. Das sollte besonders in den Bereichen geschehen, in denen Deutschland Stärken hat, auf denen sich aufbauen lässt, wie etwa bei der Nachhaltigkeit. Noch nicht abgefahren sei der Zug etwa auch im Bereich Business-to-Business – gerade im Mittelstand gebe es für innovative Ideen von Start-ups gute Aussichten. 

Und dann sei natürlich die Politik gefragt, sie müsse für eine „risikoorientierte Regulierung“ sorgen. Es müsse zum Beispiel möglich sein, Mitarbeiter leichter am Gewinn zu beteiligen. Und nötig seien auch mehr Förderprogramme als bislang. Es sei schließlich ein langer Weg, bis ein Produkt entwickelt sei und sich am Markt behaupte. Gleichzeitig müsse Raum für Experimente bleiben: Auch wenn das ursprünglich angestrebte Ziel nicht erreicht werde, zeige die Erfahrung, dass sich Innovationen quasi als Nebenprodukt ergeben, frei nach dem Motto: „Irgendetwas, was wir starten, wird schon fliegen!“ 

Der Umstand, dass gerade Frauen in der Start-up-Szene noch unterrepräsentiert seien, bereite Firmengründerinnen im Übrigen ein günstiges Umfeld: Für sie seien derzeit durchaus interessante Förderprogramme abrufbar.


„Es ist eine Superzeit für Gründer“

Wie sind die Chancen für Start-ups auf der Insel und in Europa allgemein? Antworten von „Gründer-Papst“ Helmut Schönenberger

Helmut Schönenberger, Honorarprofessor an der Technischen Universität München (TUM), hat vor 20 Jahren gemeinsam mit der BMW-Erbin Susanne Klatten die UnternehmerTUM GmbH ins Leben gerufen, inzwischen europaweit das größte Gründer- und Innovationszentrum. Mit dessen Hilfe hat der 49-Jährige bereits über 1.000 Start-ups bei ihrer Gründung begleitet. Schönenberger sprach beim Wirtschaftsforum Neu Denken auf Mallorca zum Thema Forschung und Innovationen als Voraussetzungen für wirtschaftlichen Wohlstand.

Wie steht es aus Ihrer Sicht um den Gründerstandort Europa?
Er befindet sich deutlich im Aufwind. In den vergangenen zehn Jahren wurden sehr viele interessante, wachstumsstarke Unternehmen gegründet, und es haben sich immer mehr Gründungshubs etabliert. In Spanien ist das beispielsweise Barcelona, in Frankreich Paris und in Deutschland Berlin oder München. Es ist eine Superzeit für Gründer.

Spanien steht bei der Zahl der Start-ups an vierter Stelle europaweit. Wie gut ist das?
Es gibt in Spanien eine sehr lebendige Gründerszene, vor allem in den Zentren Madrid und Barcelona. Spaniens Start-up-Szene hat meines Erachtens enormes Potenzial.

Und was ist mit Mallorca?
Um Universitäten herum entstehen üblicherweise Gründerzentren. Die Balearen-Universität hat einzelne Kurse für angehende Unternehmer im Angebot, aber ist noch kein sichtbares europäisches Gründer-Hub. Auch auf der Insel gibt es aber viele junge Menschen, die den unternehmerischen Weg wählen.

Was könnte für Mallorca sprechen auf dem Weg, ein Gründerzentrum zu werden?
Wichtig sind vor allem die Menschen vor Ort. Auf der einen Seite die Studierenden, aber auf der anderen Seite auch die bestehenden Strukturen, die Unternehmer, die Geschäftsleute. Und da hat Mallorca beachtliche Unternehmen, wie etwa Camper, um die herum auch neue Ideen entstehen können.

Helmut Schönenberger bei seinem Vortrag auf dem Wirtschaftsforum Neu Denken 2022.

Oder auch die großen Hotelketten wie Riu, Meliá, Iberostar ...
Der Tourismus ist natürlich die Stärke von Mallorca. Um ihn herum gibt es ja schon laufend neue Innovationen. Daran anschließend gibt es viele weitere Felder, wie die Logistikbranche oder die Ernährungsbranche. Ein großes Thema für die ganze Welt ist der ganze Nachhaltigkeitsbereich mit erneuerbaren Energien oder dezentraler Stromversorgung oder Elektromobilität, wo Mallorca auch eine wichtige Rolle spielen kann.

Welche Grundvoraussetzungen braucht denn ein Standort für einen Gründer-Hub?
Es müssen die richtigen Menschen mit den Investoren zusammenkommen. Das technologische Know-how muss da sein. Zudem muss es ein förderliches Branchenumfeld geben, wie etwa der Tourismus oder die Agrarbranche.

Die Balearen haben EU-Hilfen aus dem NextGeneration-Fonds in großem Umfang beantragt. Wie können die bei der Förderung von Start-up-Unternehmen wichtig werden?
Die staatlichen Förderungen sind oft der Schlüssel dafür, dass Neues entsteht und dass junge Teams die Möglichkeit haben, eine erste Finanzierung zu bekommen. Damit haben sie dann etwas Luft, das Produkt und das Geschäftsmodell zu entwickeln, erste Kunden anzusprechen und erste Aufträge zu gewinnen.

Wie überstehen die jungen Unternehmen diesen ersten kritischen Moment?
Hier sind die Universitäten elementar, um Studierenden diesen Freiraum zu geben, sich auszuprobieren, zu lernen und zu experimentieren. Wenn es dann nicht klappt, ist es nicht so schlimm, denn sie haben einen Lernerfolg gehabt. Und wenn es funktioniert, haben sie ihr eigenes Unternehmen gegründet.

Mal ganz grundsätzlich: Was muss man für eine Unternehmensgründung mitbringen?
Wichtig ist, dass man eine große Leidenschaft für seine unternehmerischen Themen hat und Freude hat, mit Kunden und Mitarbeitenden zu agieren, und innovativ Produkte vorantreibt. Gleichzeitig braucht man ein Verständnis für den Markt und sollte betriebswirtschaftliche Kenntnisse haben.

Prof. Dr. Schönenberger gilt als deutscher "Gründer-Papst".

Sie haben bereits über 1.000 Start-ups bei ihrer Gründung unterstützt. Sehen Sie mit dieser Erfahrung inzwischen auf den ersten Blick, wer Erfolg haben wird und wer nicht?
Es ist immer aufs Neue eine Abenteuerreise. Wir versuchen, in unserem universitären Umfeld den Menschen den Freiraum zu geben und herauszufinden, ob das die richtige Reise für diese Person ist. Die Entwicklung einer Firma ist ein Prozess. Es kommt ja nicht einer mit einer Idee, und dann ist es schon die ideale, ausgereifte Geschäftsidee. Die Menschen kommen zu uns, sie lernen, wie man ein Geschäftsmodell entwickelt, sie lernen andere Mitgründer kennen, schließen sich zu Teams zusammen und fangen gemeinsam an, an der Idee zu arbeiten. Und die wandelt sich ständig und wird weiter optimiert. Wenn die Menschen in der Lage sind, auf diesen gemeinsamen Lernpfad zu gehen, sind die meisten erfolgreich.

Wie weit bringen Sie sich persönlich in der Gründungsphase der Start-ups ein?
Wir helfen ihnen zunächst einmal dabei, staatliches Fördergeld zu bekommen. Dann geht es darum, dass die Start-ups Investoren ansprechen. Darauf bereiten wir sie auch vor. Wir haben im Jahr weit über 50 Start-ups, die von externen Investoren Geld bekommen. Vergangenes Jahr haben unsere Start-ups über 3,5 Milliarden US-Dollar eingesammelt.

Kommen die meisten Investoren immer noch aus den USA oder gibt es inzwischen auch in Europa mehr und mehr risikofreudige Geldgeber?
Es sind bereits viele europäische Investoren am Start. In den späteren Finanzierungsrunden, in denen es um sehr viel Geld geht, sind viele Investoren aus den USA und Asien dabei.

Deutschland wird oft nachgesagt, Weltmeister im Überoptimieren sein. Nichts wird dem Zufall überlassen. Könnte die etwas größere Spontaneität der Spanier dem Land bei den Gründungen helfen?
Dieses Mutige und Pragmatische ist extrem wichtig. Davon abgesehen ist es eine tolle Vision, auch europäische Teams aufzubauen mit den besten Leuten aus allen Ländern. Das ist unser europäischer Gedanke, ganz Europa mit tollen Ideen versorgen.

Im Vergleich zu den USA hat Europa nur weiterhin den Nachteil, in jedem Land unterschiedliche Voraussetzungen oder Steuersysteme zu haben.
Gleichzeitig kommen wir ja zusammen, da ist Mallorca ein tolles Beispiel. Ganz Europa trifft sich auf der Insel. Das ist eine Stärke, die Mallorca nutzen kann als ein wirklich europäischer Standort.

Krisen wie derzeit in der Ukraine könnten auch Chancen für die Zukunft bergen. Wo sehen Sie Möglichkeiten für Start-ups?
Eines der zentralen Themen ist sicher der Energiebereich. Sprich: Wie können wir neue Lösungen schaffen, Energie einsparen oder neue Energiequellen aufbauen, wie etwa bei der Solarenergie? Wir sind in einer Zeit des Wandels, und es sind oft junge Unternehmen, die hier mit großen neuen Ideen kommen.



Digitalisierung

Vom Fax zur Cloud

Digitale Wirtschaft und digitale Verwaltung: Was bislang in Deutschland vorangeht - und was noch passieren muss

Linus Neumann, Experte für IT-Sicherheit, sieht noch Lernbedarf bei vielen Unternehmen. 

Behörden, die hier und da noch per Fax kommunizieren, ein Internet, das langsamer ist als in den meisten anderen Ländern Europas, Unternehmen im Visier von Hackern –Deutschland hat nicht gerade den Ruf eines digitalen Pioniers. Wie Wirtschaft und Behörden aufholen können, war deshalb ein zentrales Thema auf dem Wirtschaftsforum. 

Statements zur Debatte steuerten per Video Christian Klein bei, Vorstandsvorsitzender des Softwarekonzerns SAP, sowie auch Philipp Justus, Vice President Central Europe Google. Wie sehr so mancher Unternehmer digital noch dazulernen kann, zeigte auch der Vortrag von IT-Sicherheitsexperte Linus Neumann, der sich mit dem Schreckgespenst Cyberkrieg und der unterschätzten Gefahr der Wirtschaftskriminalität im IT-Bereich beschäftigte. Aber auch die Debatte von Start-up- und Mittelstandsunternehmern so wieder Vertreter der politischen Parteien vervollständigten das Bild von der Lage bei der Digitalisierung. 

Den Ist-Zustand beschrieben die Rednerinnen und Redner als tiefgreifende Umwälzung in den Unternehmen und als enorme Herausforderung für die Behörden. So mühsam die Digitalisierung am Anfang erschien, so exponentiell sei die Entwicklung, die sie in Gang gesetzt hat. Beispiel Handy: Das Smartphone mit seiner schier unendlichen Zahl von Apps leistet inzwischen sehr viele Funktionen, für die früher unterschiedliche Geräte notwendig waren. Vom Schreibtischvieler Unternehmer und Mitarbeiter verschwinden Telefon, Fax und Aktenordner – die „entmaterialisierende Wirkung “der Digitalisierung ist in vollem Gange. 

Gerade, wenn Unvorhergesehenes passiert wie Corona oder der Krieg in der Ukraine, brauche es allerorten zuverlässige und flexible IT-Lösungen.


Andererseits hakt es gerade im Umgang mit den Behörden. Da muss ein Unternehmer seine Bauanträge überwiegend in Papierform stellen und zig Aktenordner damit füllen, obwohl das in anderen Ländern wie beispielsweise Litauen längst digital gehe. Außerdem seien die Anträge bei Behörden auch mehrfach einzureichen, da diese die Unterlagen untereinander nicht übermitteln – aus Datenschutzgründen, also eigentlich um die Daten des Antragstellers zu schützen. Ähnliche Erfahrungen wurden von einem Winzer berichtet, der seine Erntemeldung persönlich bei Kreisverwaltung einerseits und Landesbehörde andererseits vorbeibringen muss, statt sie einfach online zusenden. Und Start-up-Gründer können es nicht glauben, Digitale Wirtschaft und digitale Verwaltung: Was bislang in Deutschland vorangeht – und was noch passieren muss dass sie mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht per Fax kommunizieren sollen. 

Die Erwartungen an die öffentliche Hand sind inzwischen hoch: Der Umgang mit den Stellen solle genauso einfach funktionieren wie in einer Banking-App, lautet die Forderung. Diesen Erwartungen werde Deutschland aber in vielen Bereichen nicht gerecht: Es herrsche ein Innovationsmangel durch die allgemeine Trägheit und gleichzeitig ein Qualitätsmangel durch die enorme Komplexität, die früher mal ein Markenzeichen für „Made in Germany“ war. Und gerade, wenn Unvorhergesehenes passiert wie Corona oder der Krieg in der Ukraine, brauche es allerorten zuverlässige und flexible IT-Lösungen. Traditionelle Geschäftsmodelle und Prozesse müssten sich ändern – auch wenn sie in der Vergangenheit sehr erfolgreich waren. 

Christian Klein, Vorstandsvorsitzender von SAP.

Dass ein digitaler Ruck bei den Behörden durchaus möglich sein könnte, dafür taugte auch das Beispiel des jetzigen LNG-Beschleunigungsgesetzes: Innerhalb weniger Wochen würden Projekte geplant, genehmigt und durchgeführt – so ein Herangehen brauche es auch in der angestrebten Digitalverwaltung: Man müsse aus dem „Tiefschlaf“ erwachen. Ohnehin wurde Deutschland ein enormes digitales Innovationspotenzial quer durch alle Branchen bescheinigt. Die Referentinnen und Referenten führten eine ganze Reihe großer wie kleiner Beispiele für unternehmerische Initiativen in der Digitalwirtschaft an. Da wäre das Engagement des Software-Konzerns SAP, der sich angesichts der Beschleunigung von Innovationszyklen gegenüber Start-ups und Wettbewerbern öffnet, um gemeinsam Lösungen zu finden. Oder etwa die Gründung von Banxware: Der Anbieter ermöglicht mit einer einfachen Integration in der Plattform der Kunden eine umsatzbasierte Finanzierung für Online-Händler – Kreditprüfung dank Echtzeit-Daten und künstlicher Intelligenz. 

Beispiel Google: Das weltweit erste Entwicklungszentrum für Datenschutz und -sicherheit des Internetgiganten steht seit 2019 in München. Und zusammen mit T-Systems entwickelt Google seit vergangenem Jahr Lösungen für eine „souveräne Cloud“, die die sogenannten Gaia-X-Vorgaben erfüllt, also die nötige Funktionalität mit den umfangreichen europäischen und deutschen Normenvereinbaren soll. Einem offenen und geschützten Cyberraum komme gerade in Zeiten geopolitischer Spannung eine Schlüsselrolle zu, hieß es.

Auch wenn durch den Ukraine-Krieg das Bewusstsein für IT-Sicherheit zunehme, säßen viele Firmen einem Missverständnis auf: Die Bedrohung durch kriminelle Hacker sei schon vor dem Krieg ein massives Problem gewesen und eine viel ernstere Gefahr als mutmaßliche Sabotage-Angriffe. Das Risiko, durch diesen „Privatsektor“ erpresst zu werden, werde auf breiter Front unterschätzt. Um diese Gefahrabzuwehren, gehe es weniger darum, Angriffe von vornherein auszuschließen – totale Sicherheit gibt es nicht –, als im Fall solcher Angriffe ein Backup zu haben, um die Datenwiederherstellen zu können und nicht den Erpressern ausgeliefert zu sein – eine Resilienz, damit der Ernstfall nicht zur Katastrophe werde. Oder anders formuliert: IT und IT Sicherheit müssten immer zusammen gedacht werden.


Mittelstand

3+ für den Wirtschaftsstandort Deutschland

Über kein anderes Thema wurde auf dem Forum mit so viel Leidenschaft diskutiert wie über das Verhältnis zwischen Politik und Mittelstand. Am Ende der Diskussion wurden sogar Schulnoten verteilt

Was kann, soll und muss die Politik tun – oder tunlichst unterlassen –, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zusichern? In einer hitzigen Diskussion zwischen Politikern und Vertretern des Mittelstands schloss diese Debatte das Wirtschaftsforum Neu Denken auf Mallorca ab. Stellvertretend für viele weitere Anwesende ergriffen folgende Personen auf der Bühne das Wort: der ehemalige Schatzmeister der FDP Harald Christ, die wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Julia Klöckner, der Geschäftsführer der dm-Drogeriemärkte Christoph Werner, dieVorsitzende der Jungen Unternehmer Deutschlands und Business Angel Sarna Röser sowie der Präsident des Family Business Networks (FBN) Deutschland Patrick Adenauer. 

Der deutsche Mittelstand bildet unbestritten das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. 99 Prozent aller Unternehmen gehören dazu. 58 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer sind bei Kleinen und Mittleren Unternehmen (KMU) beschäftigt. 81,7 Prozent der deutschen Aus- und Weiterbildung findet in mittelständischen Betrieben statt. 

Das ist eine eindeutige Stärke: Die Krisen der vergangenen Jahrzehnte – einschließlich die durch die Corona-Pandemie und die durch den Einmarsch in die Ukraine ausgelösten jüngsten Schockwellen – haben gezeigt, dass es dem Wirtschaftsstandort Deutschland durch die starke Stellung des Mittelstands besser gelungen ist, diese Herausforderungen zu meistern, als das in anderen Wirtschaftsregionen der Fall war. 

Manche Unternehmer betonten diesbezüglich die guten Bedingungen in Deutschland: eine liberale Demokratie, ein guter Bildungsstand, ein extrem hoher Arbeitsethos und eine relativ zukunftsoffene Gesellschaft. Diese Stärken sollte die Politik bewahren und sofern möglich weiter ausbauen. 

Auf ein hohes Arbeitsethos ließen auch einige der Aussagen der Referenten schließen: Sorgen und Schwierigkeiten gehörten zum Job. Wenn Lieferketten nicht funktionieren oder die Inflation steige, müsse man sich eben darauf einstellen. Unternehmertum heiße ja nicht, als Schönwetterkapitän unterwegs zu sein. 

Die Politik habe jedoch die Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen dieser dynamische Sektor gedeihen könne. Viele Unternehmen freuen sich zwar über volle Auftragsbücher, ringen jedoch mit fehlenden Arbeitskräften und Rohstoffen sowie nicht funktionierenden Lieferketten. Obendrein lähme die Bürokratie viele Initiativen – statt in Ingenieure müssten die Betriebe in Buchhalter investieren. Für viele Probleme gebe es bereits Lösungsvorschläge – wie zum Beispiel der Single Point of Contact mit den Behörden zum Abbau der Bürokratie – es hapere jedoch an der Umsetzung, sodass viele der Themen jedes Mal wieder diskutiert werden, obwohl die Maßnahmen längst bekannt waren. Und schließlich: Der drohenden Stagflation müsse man mit Senkung der Abgaben entgegensteuern. 

Links: Sarna Röser und Christoph Werner. 
Rechts: Patrick Adenauer, Harald Christ und Julia Klöckner. 

Das Problem der Politiker sei, dass sie viel zu kurzfristig denken und handeln müssen. Schlagworte und Aktionismus kommen in den Medien gut an. Ein Kanzler oder Minister, dem das Mikrofon live vorgehalten wird, muss sofort etwas vermeintlich Schlaues sagen, was dann umgehend über die Social-Media-Kanäle ausgespielt werde. Auch deswegen werde viel zu oft Politik mit Schlagworten geführt – in diese Kategorie gehören nach Meinung einiger Podiumsteilnehmer Themen wie Tankrabatt, Neun-Euro-Ticket, Sonderbesteuerung für Krisengewinne und Mehrwertsteuersenkung um drei Prozent. Viel zu selten würden dabei größere Linien entworfen und Themen vom Ende her gedacht. Möglicherweise hätte man die nun viel zu hohe Inflation verhindern können, wenn Politiker in der Finanzkrise langfristiger gedacht und konsequenter – möglicherweise unbeliebter – gehandelt hätten. 

Womöglich haben Politik und Wirtschaft aber auch ein Austauschproblem. Es wäre wichtig, dass sich Politiker sich nicht nur mit Verbandssprechern verständigen. Häufig fehle der Kontakt mit den Unternehmern selbst. Man müsse Foren schaffen, auf denen tiefer gehende Debatten geführt werden können. Erst wenn dieser direkte Informations- und Ideenaustausch funktioniert, könnten gute Vorschläge auch umgesetzt werden. Aus Politikersicht wäre es dafür umgekehrt wünschenswert, dass mehr Unternehmer ihre Meinung auch offen kundtun und ihrem Ärger Luft machen – zum Beispiel mit Namen und Foto per Leserbrief in der Zeitung. Unternehmer dürften sich nicht hinter ihren Verbänden verstecken, sondern müssten auch mal eine Position öffentlich diskutieren und verteidigen. Auch Unternehmer hätten viel zu oft Angst, aufgrund einer geäußerten unbequemen Wahrheit zum Ziel von Attacken in Social Media zu werden, die immer häufiger in persönliche Beleidigungen münden, statt sachliche Argumente zu bringen. 

Aus Politikersicht wäre es wünschenswert, dass mehr Unternehmer ihre Meinung auch offen kundtun und ihrem Ärger Luft machen.

Ein weiteres Problem der Politik sei es mitunter, dass Wahlkampf vor allem für die ältere Generation gemacht werde. Ein Renteneintrittsalter von 63 ziehe fitte, gut ausgebildete und zudem erfahrene Menschen aus dem ohnehin knappen Arbeitsmarkt ab. Das Land habe lange im Wohlstand gelebt, weil der Mittelstand floriert hat. Dieses Geld wurde auch in den Staat gepumpt, der es mit vollen Händen ausgegeben habe. Jetzt müsse man den Bleistift spitzen und schauen, wo man Dinge streichen müsse. Dies seien Probleme, die es schon vor Corona und dem Krieg in der Ukraine gegeben habe, die sich jetzt nur potenzieren. 

Zum Abschluss der sehr leidenschaftlich geführten Debatte bat Moderator Ulrich Reitz alle Podiumsteilnehmer – also die Vertreter aus Politik und Mittelstand –,den Wirtschaftsstandort Deutschland mit einer Schulnote zwischen eins und sechs zu bewerten. Als Notendurchschnitt gab es eine 3+.


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