Themenblock II

Geopolitik und Weltall


Geopolitik 

Was geht im Kopf von Putin vor?

Um den russischen Angriff auf die Ukraine zu stoppen, braucht es nicht nur Waffengewalt. Vielleicht steckt der Schlüssel darin, zu verstehen, welcher inneren Logik der Machthaber in Moskau folgt

Alexander Graf Lambsdorff, Nina Chruschtschowa, Rüdiger Freiherr von Fritsch, Georg Graf Waldersee. 

Die relative geopolitische Stabilität in den vergangenen Jahrzehnten ist vielen erst bewusst geworden, als diese am24. Februar 2022 durch den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine abrupt über den Haufen geworfen wurde. Selbst wenn der Krieg bereits 2014 mit der Annexion der Krim und den Kämpfen russischer Separatisten im Donbass begonnen hatte – dass die Kämpfe auf ganz unterschiedlichen Ebenen nicht nur die Ukraine, sondern auch das restliche Europa, die internationale Weltordnung und die hungernde Weltbevölkerung bedrohen, ist erst seit wenigen Wochen allen bewusst. 

Gewissheiten konnten auch die Expertinnen und Experten auf dem Wirtschaftsforum nicht bieten. An vielen Stellen benannten sie die wichtigsten Fragen, waren sich beiden Antworten aber nur teilweise einig: Wie muss der Westen auf Putins Aggression reagieren? Welchen Planverfolgt der russische Präsident mit dem Angriff wirklich? Wer oder was könnte ihn stoppen? Inwieweit ist dafür ein militärischer Sieg notwendig? Und vor allem: Was genau meinen wir, wenn wir von einem Sieg über Putin sprechen? 

Als ausgewiesene Russlandkenner und Fachleute für internationale Politik diskutierten im Forum unter anderen: Alexander Graf Lambsdorff – stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion und Experte für Außen-, Sicherheits-,Europa- und Entwicklungspolitik –,Michail Chodorkowski – russischer Ex-Oligarch und Kreml-Kritiker, der nun im Exil in London wohnt –, die aus New Yorkangereiste Russland-Expertin Nina Chruschtschowa – Professorin für Internationale Politik an der New School University und Urenkelin des ehemaligen Generalsekretärs der Sowjetunion Nikita Chruschtschow – sowie Rüdiger Freiherr von Fritsch, bis 2019 deutscher Botschafterin Moskau. 

Putins Vorgehen wirkt auf den Westenirrational, solange man die eigene Logik als Bewertungsmaßstab anlegt. Aus westlicher Sicht mag es für einen Staatschef selbstverständlich erscheinen, Wohlstand und Sicherheit fürs eigene Land garantieren und mehren zu wollen. Doch Putin folgt ganz offensichtlich einer anderen Logik. Sucht er schlicht den eigenen Machterhalt? Schließlich könnte man auch die begonnenen Kriege in den Jahren 1999 (Tschetschenien),2008 (Südkaukasus) und 2014 (Krim, Donbass) als Militäroperationen interpretieren, um innenpolitisch schwache Momente zu überwinden. 

Oder denkt Putin inzwischen vielmehr vollständig in historischen Dimensionen? Möchte er sich einen Beinamen für die Geschichte verdienen? Ist es das eigentliche Ziel, als „Wladimir der Große“ in die russischen Geschichtsbücher einzugehen? Ist sein Vorbild dabei der erste Zar des Russischen Reiches Peter der Große oder die von ihm persönlich verehrte Zarin Katharina die Große? Oder aber reicht es ihm schon, wenn ihn die USA endlich einmal als ebenbürtigen Staatsmann verstehen und mit ihm auf Augenhöhe verhandeln? 

Folgt Russlands Herrscher eher der Strategie eines Mafioso, der Macht und Reichtum mehren will, oder sollten wir uns darauf konzentrieren, dass Putin ein Judo-Meister ist, der stets den richtigen Moment abpasst, um den Gegnerunerwartet und auf dem falschen Fuß zu erwischen? Ein Politiker kann zurückweichen und auch mal einen Fehlerzugestehen. Für einen Geheimdienstler aus dem KGB, so eine Stimme aus dem Forum, sei eine Niederlage keine Option. Man müsse immer gewinnen. 

Die sich ergänzenden Spekulationen um das, was in Putins Kopf vorgehen mag, machten eines deutlich: Erst wenn der Westen die Psyche des Angreifers besser versteht, werde man bei den Versuchen, ihn zu stoppen, weniger Fehlerbegehen. Zu diesen begangenen Fehlern gehören möglicherweise große Teile der Sanktionspolitik. Insbesondere die Cancel-Russian-Culture-Politik könnte bei der russischen Bevölkerung bewirken, dass sie der Kreml-Propagandaglaubt, der Krieg sei eine notwendige Verteidigung gegen eine westliche Verschwörung gegen Russland.

Auch die Idee, man könne Druck auf den Kreml ausüben, indem man sogenannte Oligarchen bestrafe, gehe von falschen Voraussetzungen aus. Schon der Begriff Oligarch habe in einer Diktatur wenig Sinn. Das verdeutlichte ein historischer Vergleich. War Krupp ein Oligarch unter Hitler? Hätte er die Macht gehabt, Hitler zu stoppen? An den entscheidenden Positionen im Macht Gefüge säßen nicht die Oligarchen, sondern vielmehr Putins KGB Freunde, von denen unter den jetzigen Umständen wohl kaum eine wirkungsvolle Opposition ausgehe. 

Bleibt die Frage nach dem Militär. Denn dort regt sich Unmut. Vieles im Krieg läuft aus Sicht des russischen Militärs nicht, wie es hätte laufen können, wie die teilweisedurch Spionage abgefangene Kommunikation unter Soldaten beweist. Manche Diskussionsteilnehmerschöpften hieraus eine gewisse Hoffnung: Sollte Putin vor den Militärs als Kriegsverlierer dastehen, würde ihn dies extrem unbeliebt machen. Mit der richtigen Propaganda könnte Putin dem Volk vielleicht erklären, man habe in der Ukraine den einen oder anderen Sieg errungen. Das Militär werde sich nach den enormen Verlusten nicht mit solchen Erklärungen zufrieden geben. Eine militärische Niederlage, so waren sich mehrere Diskussionsteilnehmer einig, würde den Präsidenten im eigenen Land enorm schwächen. Allerdings warnten andere davor, auf einen Militärputsch zu hoffen. Russland dürfe man sich nicht wie Lateinamerikavorstellen. Es gebe in der russischen Geschichte keine Tradition von Staatsstreichen. 

Uneinigkeit bestand unter den Referenten auch in der Frage, was es genau bedeute, eine Niederlage Russlands herbeizuführen. Reicht es vielleicht aus, dass Putin die von ihm formulierten Ziele nicht erreicht? Dass die Ukraine weiterhinein souveräner Staat bleibt, in der Russland keine Marionetten-Regierung einführen kann? Ist es dafür möglicherweise nicht so erheblich, ob wirklich das gesamte ukrainische Territorium in diesem souveränen Staat verbleibt? Oder müssen die russischen Truppen vollständig besiegt und aus ukrainischem Gebiet zurückgedrängt werden? Wenn dies nicht geschehe, so die Warnung eines Putin-Kenners aus dem Forum, könne es passieren, dass sich die Frontlinie immer weiter nach Westen verschiebe. Solange Putins Russland weiter vorrücken könne, werde es keinen Halt machen. Auch Deutschland, so die Warnung, könne sich dann nicht mehr sicher fühlen.

Für einen Geheimdienstler aus dem KGB, so eine Stimme aus dem Forum, 
sei eine Niederlage keine Option. Man müsse immer gewinnen.


„Ein diktatorischer Autokrat“

Die Politologin und Kreml-Kennerin Nina Chruschtschowa über die Hintergründe von Putins Angriff auf die Ukraine

Nina Chruschtschowa reiste aus New York  an. 

Aus New York zum Wirtschaftsforum Neu-Denken reiste Nina Chruschtschowa an. Die russisch-amerikanische Politologin ist Expertin für jüngste russische Geschichte. Die Urenkelin des ehemaligen Ministerpräsidenten der Sowjetunion Nikita Chruschtschow –Stalins Nachfolger – wuchs in Moskau auf, studierte dort Russisch und promovierte später in Komparatistikan der Princeton University in New Jersey. Nun ist sie Professorin für Internationale Politik an der New School in New York. 

Haben Sie am Tag der Abschlussfeier der Olympischen Winterspiele in Peking, am Sonntag den 20. Februar, damit gerechnet, dass Russland vier Tage später in die Ukraine einmarschieren würde?
Ich habe nicht damit gerechnet, obwohl es Gerüchte gab, dass es am 22. Februar geschehen könnte – teils, weil entsprechende Informationen der US-Geheimdienste durchsickerten, und teils, weil es das Ende der Olympischen Spiele war und Putin wohl dazu neigt, Militäroperationen in solchen Momenten zu beginnen. Es gab auch ein paar Anhänger von Verschwörungstheorien, die meinten, der 22.02.2022 müsse eine Art Weltuntergangszahl sein. Aber das erschien mir alles so irrational, dass ich nicht glaubte, dass Putin, der zuvor ein wenig Pragmatismus gezeigt hatte, darauf hereinfallen würde. Außerdem schien dies den Interessen Russlands in jeder Hinsicht zu widersprechen. Nur ein wahrer diktatorischer Autokrat würde so einen irrationalen Schritt tun. Aber ich denke, in den letzten zwei bis vier Jahren hat er sich in genau das verwandelt: in einen diktatorischen Autokraten. 

Der Westen reagierte geschlossener als erwartet. Eine Überraschung für den Kreml?
Vielleicht. Aber Putin lebt ohnehin mit der Vorstellung, dass der Westen Russland gegenüber ungerecht ist und dass die Ukraine absichtlich zu einem Anti-Russland-Landgemacht wurde, um Russland noch mehr zu schwächen. Tatsächlich helfen die – meiner Meinung nach eher verantwortungslosen– Forderungen des Westens, Russland zu schwächen und zu zerschlagen, Putin nur dabei, die Menschenhinter sich zu scharen. Letztlich wird das Kreml-Argument, Russland sei eine „belagerte Festung“, bestätigt –besonders mit all den „Cancel Russia“-Initiativen und Kultur-Boykotten im Westen. Die Propaganda des Kremls nutzt das erfolgreich aus. 

Was, wenn Trump gerade Präsident wäre? 
Trump hat Selenskyj oder die Ukraine nicht unterstützt, und deshalb würde Selenskyj Trump wohl nicht so nachdrücklich darum bitten, dabei zu helfen, Russland zu besiegen oder die mögliche Rückeroberung von Gebieten zu unterstützen. In der Regierung Biden gibt es eine Menge Leute, die sich den Untergang Russlands wünschen. 

Wie gut ist Putin über die Lage informiert?
Ich glaube, Putin war vor der „Operation“ falsch über die Lage vor Ort informiert, weil niemand glaubte, dass er sie durchführen würde. Auch sein Militär war ziemlich im Unklaren darüber, was genau diese „Spezialoperation“ beinhalten sollte. Ich glaube nicht, dass er nach Beginn der Operation falsch informiert war. Ich weiß mit Sicherheit, dass das russische Oberkommando die Truppen aufgefordert hat, die Kriegsregeln zu befolgen. Aber die Truppen rotieren, einige sind besser als andere, einige sind brutaler als andere. 

War der Einmarsch seit Jahren vorbereitet?
Ich weiß nicht, ob Putin den Krieg geplant hat, aber er hat erwartet, dass er das Minsker Abkommen umsetzen könnte, was Russland die Kontrolle über die Ostukraine ermöglicht hätte. Aber vielleicht wollte er den Krieg schon seit einiger Zeit, denn er wollte ja Neurussland [die sogenannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk, Anmerkung der Red.], das er jetzt fast hat. 

Nina Chruschtschowa mit Rüdiger Freiherr von Fritsch (Botschafter a.D.) sowie Georg Graf Waldersee, Vorsitzender des Deutschen Komitees für UNICEF e.V. 


Putin besteht darauf, dass dies alles eine Antwort auf die westliche Aggression ist. Propaganda oderrealistische Angst?
Beides. 

Sie sagten einmal in einem Interview, Russlandneige dazu, die Dinge zu übertreiben. Gilt das auch für die Invasion in der Ukraine?
Sie ist das bislang krasseste Beispiel dafür. Er hätte den Krieg oder die Spezialoperation, wie sie es nennen, nicht beginnen müssen, um zu bekommen, was er wollte, weder in Bezug auf die Ostukraine noch in Bezug auf die NATO. 

Westliche Medien sprechen oft von „Putins Krieg“. Ist das wirklich eine Privatsache?
Es ist Putins Krieg, niemand sonst von den Mächtigen hatte ein Interesse daran. Aber es ist Russlands Krieg, weil nur wenige den Widerspruch gewagt haben. Das wird man nun unmöglich trennen können. 

Wenn jemand im Land in der Lage ist, Putin zu stoppen, wer wäre das?
Es gibt eine Opposition, aber die Zivilgesellschaft ist im vergangenen Jahrzehnt geschwächt worden. Es war ein großer Fehler des Westens, zu glauben, dass die Oligarchen etwas ausrichten könnten. Sie sind von den KGB-Leuten verdrängt worden, die Putin in den vergangenen 20 Jahren in Machtpositionen gebracht hat. Nawalny sitzt im Gefängnis, und was die jungen Leute angeht: Je mehr der Westenwahllos alle Russen für Putin bestraft, desto mehr müssten sie den Putinismus für sich selbst rechtfertigen. Sie müssen mit ihm leben. Massendemonstrationen sind unwahrscheinlich, weil Russland jetzt ein kompletter Polizeistaat ist. Nur Putins KGB-Freunde könnten ihn aufhalten, aber auch das ist unwahrscheinlich. Doch der Kreml ist unvorhersehbar. Die Macht in Russland scheint immer so langeunerschütterlich, bis sie plötzlich erschüttert wird. 

Ich glaube, Putin war vor der „Operation“ falsch über die Lage vor Ort informiert, weil niemand glaubte, dass er sie durchführen würde.


Wo ist die russische Intelligenzija? Inwieweit gibt es trotz Zensur eine Debatte?
Viele Intellektuelle haben das Land verlassen. Viele weitere sind jedoch geblieben, und es gibt einige Youtube- und Telegram-Kanäle, die die Arbeit fortsetzen. Das gilt auch für Echo Moskwy, Russlands bekanntesten Radiosender, der im März geschlossen wurde. 

Was ist in Ihren Augen das größte Missverständnis über Russland im Westen?
Dass Russland ein Dritte-Welt-Land ist, ein Feind per Definition. Die USA wollen, dass ihnen jeder gehorcht, aber Russland wird das nie tun. Es ist also ein Problem, für das es keine Lösung gibt. Russlands Beziehungen zu Europahätten anders sein können, aber ein Großteil Europas lebt noch immer unter der Wolke des Marshall-Plans. 

Während der kubanischen Raketenkrise fand Ihr Urgroßvater in direkten Gesprächen mit Kennedy eine friedliche Lösung. Würde Putin genauso reagieren wie Nikita Chruschtschow vor 60 Jahren?
Wladimir Putin hat schon jetzt nicht so reagiert wie Chruschtschow 1962.


Wie weiter mit China?

Die Zeit, in der Europa dem Fernen Osten vorschreiben konnte, was es zu tun habe, sind endgültig vorbei. Auch eine Entkoppelung ist unrealistisch. Um einzelne Interessen geltend zu machen, muss die EU mit einer Stimme sprechen und ihre Politik mit den USA koordinieren, ohne sich vereinnahmen zu lassen

Links: Nicht immer einer Meinung: Wolfgang Ischinger (li.) und Rudolf Scharping diskutieren mit dem per Videokonferenz zugeschalteten Frank Sieren. 
Rechts: Dem Publikum wurde schnell klar, dass es im Ernstfall sehr viel schwieriger wäre, Sanktionen gegen China zu verhängen, als gegen Russland.


Die Abhängigkeit von russischer Energie ist Europa und insbesondere auch Deutschland schwer auf die Füße gefallen. Umso wichtiger erscheint die Debatte darüber, wie stark man sich an den Markt eines wirtschaftlich gesehen viel mächtigeren Players binden möchte: China. Wie viel Handel darf man mit einem Land treiben, das möglicherweise nur auf den richtigen Moment wartet, um sich Taiwan einzuverleiben und dessen Menschenrechtsverbrechen zuletzt wieder durch die Aufdeckung der systematischen Verfolgung der Uiguren an die Öffentlichkeit gerieten? Ist es also erstens wünschenswert und zweitens machbar, sich von dem autokratisch geführten Wirtschaftsriesen wieder zu distanzieren? Welche Möglichkeiten hat der Westen im Allgemeinen und Europa im Besonderen, Druck auf China auszuüben, damit es Russland nicht im Krieg gegen die Ukraine unterstützt? 

Diesen Fragen stellten sich im Wirtschaftsforum mehrere ausgewiesene China-Experten. An der Debatte beteiligten sich insbesondere: Wolfgang Ischinger – Diplomat und langjähriger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz –, Rudolf Scharping – ehemaliger Bundesverteidigungsminister und SPD-Vorsitzender, der inzwischen Unternehmen und Institutionen bei der Strategie- und Geschäftsentwicklung in China berät – so wieder China-Experte und Buchautor Frank Sieren, der live aus Peking zugeschaltet wurde, wo er seit 1994 wohnt. 

Die wirtschaftliche Verknüpfung des früheren Export-Weltmeisters Deutschland mit dem inzwischen eindeutigen Weltranglisten-Ersten China ist von riesigem Ausmaß, wie an einer Vielzahl von Beispielen verdeutlicht wurde. Eine Entkoppelung vom Wirtschaftsriesen ist wohl nur theoretisch eine Option und wäre in der Praxis mit gravierenden Folgenverbunden – „wir müssten uns auf Inflationsraten von 30 oder40 Prozent gefasst machen“, war eine Analyse und „dann würde bei den deutschen Autoherstellern ganz schnell das Licht ausgehen“, eine weitere. 

Aus London zugeschaltet wurde der ehemalige Oligarch Michail Chodorkowski. 

In der Zukunft werde der asiatische Wirtschaftsraum im Allgemeinen und China im Besonderen außerdem noch weiter an Gewicht zunehmen. In den Mitgliedsländern des China-ASEAN-Freihandelsabkommens wohnt knapp ein Drittel der Weltbevölkerung. Ließe sich also irgendeine der dringenden globalen Herausforderungen – vom Klimawandel über Armut bis zum Terrorismus – ohne die Kooperation oder sogar gegen die Interessen der Wirtschaftsmacht China lösen? 

Der Alte Kontinent muss sich endgültig vom Glauben verabschieden, die Welt werde mehr oder weniger von Europa gesteuert. Dennoch müsse Europa selbstverständlich seine Interessen gegenüber China geltend machen. Man sollte auch daran arbeiten, Abhängigkeiten langsam zu entflechten. Das gehe aber nur mit Zeit und Perspektive. 

Unbedingt notwendig sei es dabei, dass die Europäische Union mit einer einzigen Stimme spreche und Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Frankreich, Italien oder Portugal nicht jeweils mit ganz unterschiedlichen Forderungen an Peking herantreten. Die EU wird als Akteur im asiatischen Raum kaum wahrgenommen. China müsse klargemacht werden, dass die EU mit ihren 450 Millionen Einwohnern ein geeintes Interessedaran hat, dass sich China im Ukraine-Krieg nicht hinter Russland stelle – weder mit Waffenlieferungen noch mit neuen Handelsbeziehungen, die die Sanktionen des Westens wirkungslos machen könnten. 

Weiterhin müsse man sich darüber im Klaren sein, dass sich die EU in dieser Sache nicht allein auf die USA verlassen kann. Die Interessen von Europäern und Amerikanern decken sich hier nur zum Teil. Die China-Politik muss eng mit Washington abgestimmt werden, aber gleichzeitig die eigenen Positionen vertreten. Die transatlantische Abstimmung klappt zur Zeit – mit Präsident Biden – gut. Wünschenswert wäre, bestimmte Positionen abzustimmen, bevor Biden bei den Midterms im Herbst 2022 Macht einbüßt und möglicherweise nach den Präsidentschaftswahlen 2024 wieder ein ganz anderer Ton zwischen Europa und Amerika herrscht. Washington sei – auch unter Biden – viel stärker als beispielsweise Berlindarauf erpicht, dass China zum Nato-Thema werde. Wegen der unterschiedlichen Interessen dürfe die Koordination der China-Politik des Westens insofern keine Einbahnstraße sein. Brüssel darf sich die Haltung zu Peking nicht aus Washingtondiktieren lassen. 

Kann man irgendeine globale Herausforderung ohne China lösen?


Trotz der lauteren China-Konfrontation der USA, die teilweise auch von Biden fortgesetzt werde, suchen die USA dabei viel stärker als beispielsweise Europa den direkten Dialog mit China. Zu den Anzeichen für eine zunehmende Kooperation gehört etwa, dass Peking US-amerikanischen Konzernen die Finanzmärkte öffnet. Auch die Visa-Vergabe ist gelockert worden. Seit der Corona-Krise hat Europa kaum eine offizielle Delegation nach China geschickt, die US-Amerikaner schon. 

Unterdessen sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Muskelspiele Chinas gegenüber Taiwan in eine kriegerische Auseinandersetzung eskalieren können, nicht gewachsen, sondern durch den Krieg in der Ukraine eher gesunken. Die Provokationen könne man wohl als Teil eines amerikanisch chinesischen Macht Spiels begreifen, bei dem beide Seitenklarstellen, dass sie für ihre Interessen im äußersten Fall auch militärisch eintreten würden. China sei aber nicht zuletzt durch die Reaktion des Westens auf den russischen Einmarsch in die Ukraine stärker bewusst geworden, welche Folgen so ein Eingreifen haben könnte. Auch aus den USA sei kein Interesse an einer Eskalation zu erwarten. Biden habe klargestellt, die Zeiten der großen militärischen Interventionen seien Geschichte.


Weltall

Das All als Milliardenmarkt

Von Satelliten bis Mondbasen: Ex-Raumfahrer Thomas Reiter, bis 2021 ESA-Koordinator sowie Berater des ESA-Generaldirektors, über das wissenschaftliche und wirtschaftliche Potenzial der Raumfahrt

Thomas Reiter arbeitete mehrere Monate auf 
der Internationalen Raumstation (ISS). Foto: ESA

Mit dem Smartphone nach Son Claret navigieren – auch beider Anfahrt zum Tagungsort benutzten viele Teilnehmer Raumfahrttechnologie. Ist den Menschen bewusst, welche Bedeutung diese für ihr tägliches Leben hat?
Das Bewusstsein wächst, aber wir sind gefordert, es noch weiter in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Funktionsfähigkeit moderner Volkswirtschaften hängt sehr stark von Diensten ab, die aus dem Weltraum kommen. Dazu gehören die Satellitennavigation, die Erdbeobachtung oder die Telekommunikation, die in weiten Bereichen über satellitengestützte Kommunikationssysteme läuft. Von dieser Entwicklung dürfte übrigens gerade auch ein Kontinent wie Afrika profitieren. 

Inwiefern? 
In vielen, weitläufigen Regionen ist der Ausbau von Breitband ein Problem. Und da ist Satelliteninternet die beste Lösung. So bekommt auch ein einfaches Dorf dank Satellitenantenne ein 5-G-Netz. Auch etwa der Bereich Landwirtschaft ist für Afrikaentscheidend. Die Erdbeobachtung hilft, die Effizienz der Erträge zu verbessern. Außerdem ist es ein Ziel der Forschung, Nutzpflanzen resistenter gegen Trockenheit zu machen. Ich war an einem Projekt auf der internationalen Raumstation beteiligt, wo es darum ging, die biochemischen Prozesse beim Pflanzenwachstum besser zu verstehen. Die Schwerkraft hat einen enormen Einfluss darauf. Durch eine Modifikation soll erreicht werden, dass Nutzpflanzen schneller und tiefer ihre Wurzeln in den Boden treiben. 

Hier wissenschaftliche, dort kommerzielle Raumfahrt– wie ist das Verhältnis heute? 
Die Raumfahrt ist im vergangenen Jahrzehnt mit 5,1 Prozentmehr als doppelt so stark gewachsen wie die Weltwirtschaft insgesamt, deren Durchschnitt bei 2,1 Prozent lag. Die gesamte Raumfahrtökonomie umfasste 2021 etwa 370 Milliarden Euro weltweit, wobei ein Viertel davon staatliche Investitionen waren. Bis 2030 soll sich der Bereich laut Prognosen verdoppeln. 

Welche Chancen und welches Potenzial haben da Start-ups? 
Wer Raumfahrt betreiben will, muss natürlich in der Lage sein, Satelliten nach oben zu bringen. Und genau an dieser Stelle setzt ja auch Daniel Metzler mit Isar Aerospace an, den wir im Wirtschaftsforum gehört haben. Ein anderer wichtiger Trend ist die Miniaturisierung, die wir auch aus anderen Bereichen kennen. Wir haben in Deutschland Start-ups, die in der Lage sind, kleine Satelliten mit faszinierenden Fähigkeiten zu bauen. Wir brauchen in Zukunft also nicht nur schwere Trägerraketen, auch wenn es diese weiterhin geben wird. Ein drittes Beispiel ist die Verwertung der Daten. Die derzeit sieben Satelliten des Kopernikus-Programms der EU liefern heute pro Tag ungefähr 17 Terabyte an Rohdaten. Dieser Schatz steht Start-ups bereit, um sich bei der Veredelung dieser Daten neue Anwendungen auszudenken. Ich bin sehr gespannt, welche Anwendungen da in Zukunft kommen werden. 

Der ehemalige Raumfahrer Dr. Thomas Reiter (re.) im Gespräch mit Daniel Metzler, CEO Isar Aerospace Technologies GmbH. 


Inwieweit können solche Daten auch beim Umweltschutzhelfen? 
Die erhobenen Daten spielen nicht nur eine wichtige Rolle beim Verstehen des Klimawandels, sondern auch bei der Frage, ob die politischen Entscheidungen zum Klimaschutz auch die gewünschten Erfolge bringen. Und man kann letztendlich auch Umweltsünder finden: Wir entdeckten 2020mithilfe eines Satelliten, dass in Sibirien ein riesiger Dieseltankleckgeschlagen war. Rund 2.000 Tonnen Diesel gelangten in einen Fluss. Dafür haben Algorithmen diesen Datenstrom prozessiert. Das Verrückte war: Das erfuhr die russische Zentralregierung über europäische Medien. 

Stichwort Russland: Inwieweit bleibt die internationale Raumstation außen vor im Ukraine-Konflikt? 
Im Moment ist sie noch außen vor, und ich klopfe auf Holz, dass das so bleibt. Der Chef der russischen Raumfahrtagentur, Dmitrij Rogosin, hat seit Ausbruch des Krieges mehrfachdeftige Drohungen ausgestoßen. Aber er trifft auch mal gerne solche Aussagen. Dazu muss man wissen, dass das russische Segment eine zentrale Funktion bei der Orientierung der Station hat. Die ISS ist seit Ende der 1990er Jahre ein exzellentes Beispiel für internationale Kooperation, jenseits aller Konflikte auf der Erde. Inzwischen sind mehr als hundert Länder an der Forschung an Bord beteiligt. Das ist ein Leuchtturm, wie Zusammenarbeit funktionieren sollte, um die wirklich großen Probleme unserer Tage anzugehen. 

Der Weltraum als Ort der Kooperation, aber auch als eine Art Wilder Westen, oder? 
Es ist tatsächlich so, dass es da oben immer dichter wird. Der Aufbau von Kommunikationskonstellationen geht einher mit einer unglaublichen Zahl von Satelliten, und da ist ohne hin schon viel Müll in der Höhe von 400 bis 1.200 Kilometern. Die zunehmende Gefahr erkennt man auch daran, dass wir pro Tag für die 22 von der ESA kontrollierten Satelliten mehr als tausend Kollisionswarnungen bekommen. Steigt die Kollisionswahrscheinlichkeit über einen bestimmten Grenzwert, müssen wir mit unseren Satelliten ausweichen. 

Welche Mond- und Mars-Missionen halten Sie bis Ende des Jahrzehnts für realistisch? 
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in diesem Jahrzehnt die Rückkehr von Menschen auf die Mondoberfläche erleben werden. Die ESA hat bereits drei Fluggelegenheiten für europäische Astronautinnen und Astronauten zu einer Station vereinbart, die den Mond umkreisen wird. In diesem Programm tragen wir ein ganz zentrales Element bei, das Antriebsmodul für die US-Orion-Kapsel. Ziel ist es nicht, eine Flagge zu platzieren und ein paar Steine mitzubringen, sondern dort zu bleiben, sich etwa am Südpol einzurichten, von dem wir wissen, dass es dort Wasser gibt. Das ist auch wichtig für die Sauerstoff- und Treibstoffproduktion. Dann kann man erkunden, ob es Bodenschätze, z.B. seltene Erdengibt. Die erdabgewandte Seite ist für die Astrophysik von großem Interesse, weil man dort frei von atmosphärischen Störungen in die Tiefen des Universums schauen kann. Auf dem Mars interessiert uns vor allem, ob es dort Leben gab oder noch gibt. Wir wollen die Entwicklung dieses öden Planetenverstehen, auf dem es früher eine Atmosphäre und einen Ozean gab, und wissen, ob der Erde auch einmal ein solches Schicksal bevorstehen könnte.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in diesem Jahrzehnt die Rückkehr von Menschen auf die Mondoberfläche erleben werden. Ziel ist es nicht, eine Flagge zu platzieren und ein paar Steine mitzubringen, sondern dort zu bleiben.


INHALTSVERZEICHNIS 

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